Die Bärengeschichte
Vor langer Zeit fand einmal eine Frau einen zwei bis drei Tage alten Bären. Da sie so einen Liebling schon lange vermißt hatte, widmete sie ihm ihre innigste Fürsorge, als ob es ihr eigener Sohn wäre, hätschelte ihn, machte ihm neben ihrem eigenen ein weiches, warmes Bett zurecht und sprach mit ihm, wie eine Mutter mit ihrem Kind. Sie hatte keine lebenden Anverwandte mehr und bewohnte mit dem Bären allein das Haus. Als Kunikdjuaq herangewachsen war, bewies er der Frau, daß sie ihn nicht umsonst erzogen hatte, denn er begann bald Seehunde und Lachse zu jagen, die er, bevor er selbst davon aß, seiner Mutter brachte und erst aus ihren Händen empfing er seinen Anteil davon. Auf einer Hügelspitze wartete sie immer auf seine Rückkehr und wenn sie sah, daß er kein Glück gehabt hatte, bettelte sie bei den Nachbarn um Walfischspeck für ihn. Sie konnte das von ihrem Ausguck aus beobachten, denn wenn er Erfolg gehabt, kam er in derselben Spur zurück, die er beim Auszug gemacht hatte, wenn er aber keinen Erfolg gehabt hatte - immer auf einer anderen. Da er die Inuit auf der Jagd zu übertreffen wußte, erregte er ihren Neid und so wurde nach langen Jahren treuen Dienstes sein Tod beschlossen. Als die alte Frau das hörte, erbot sie sich, von Gram überwältigt, ihr eigenes Leben herzugeben, wenn dafür nur der verschont wurde, der sie so lange erhalten hatte. Ihr Angebot wurde kurzweg abgewiesen. Als sich alle seine Feinde in ihre Hütten zurückgezogen hatten, hielt die Frau mit ihrem Sohn, der jetzt schon zu Jahren gekommen war, ein langes Gespräch und sagte ihm, daß böse Männer darauf aus wären ihn umzubringen, und daß es für ihn nur eine Möglichkeit gebe, sein und ihr Leben zu retten, nämlich auf und davonzugehen und nicht mehr zurück zu kommen. Zugleich bat sie ihn aber sich nicht weiter zu entfernen, als daß sie weggehen und ihn treffen könnte, um einen Seehund und sonst dergleichen, was sie brauche, zu bekommen. Nachdem der Bär auf das gehört, was sie ihm unter Tränen, die auf ihre runzeligen Wangen fielen, gesagt hatte, legte er freundlich seine großen Tatzen auf ihren Kopf, umschlang dann ihren Nacken und sagte: "Gute Mutter, Kunikdjuacj wird immer auf Ausschau sein nach dir und dir so gut er kann dienen." Nachdem er das gesagt, befolgte er ihren Rat und ging zum Kummer der Dorfkinder und der Mutter fort.
Nicht lang danach ging diese, da sie Mangel an Nahrung halte, hinaus
aufs Meereis um zu sehen, ob sie nicht ihren Sohn treffen könnte
und sie erkannte ihn auch bald als den einen von zwei Bären, die
miteinander dalagen. Er lief zu ihr und sie patschte ihm in ihrer altgewohnten
traulichen Art auf den Kopf, verriet ihm ihre Wünsche und bat ihn
wegzueilen und etwas für sie zu bringen. Der Bär lief davon
und wenige Augenblicke daraufsah die Frau einen fürchterlichen Kampf
zwischen ihm und seinem früheren Gefährten, der zu ihrer großen
Beruhigung bald damit endete, daß ihr Sohn einen leblosen Körper
vor ihre Füße zerrte. Mit ihrem Messer häutete sie rasch
den toten Bären ab, gab ihrem Sohn große Speckscheiben und
sagte ihm, sie werde bald zurückkommen, um das Fleisch, das sie nicht
auf einmal nach Hause bringen könne, zu holen und wenn es ihr wieder
an Nahrung mangle, werde sie wieder kommen. Das tat sie denn auch noch
lange, lange Zeit. Der treue Bär half ihr immer und genoß der
gleichen Liebe, wie in seiner Jugend.
aus: F. Boas: Central Eskimo (Annual Report of American Ethnology, Vol VI. Washington 1888).