Der Feuerball
Vor langer Zeit lebte in dem Dorf Kin-i-gim ein armer Waisenknabe, der niemanden hatte, der für ihn sorgte, von jedermann schlecht behandelt wurde, und auf Geheiß der Dorfbewohner immer dahin und dorthin laufen mußte. Eines Abends wurde er aus dem Haus geschickt um zu sehen, wie das Wetter sei. Er hatte keine Fellschuhe und da es Winter war wollte er nicht gehen, wurde aber doch hinausgejagt. Er kam gleich wieder zurück und sagte das Wetter habe sich nicht geändert. Daraufhin sandten ihn die Leute wieder mit demselben Auftrag hinaus, bis er schließlich zurückkam und erzählte, er habe einen großen Feuerball, wie den Mond, über einem nahen Hügel aufsteigen gesehen. Die Leute lachten ihn aus und schickten ihn wieder hinaus und da sah er, daß das Feuer herangekommen und schon ganz in der Nähe war. Da lief der Waisenknabe hinein, erzählte, was er gesehen und versteckte sich, denn er hatte Angst.
Bald darauf sahen die Leute eine Feuergestalt vor der Haut, die die Dachluke verschloß, herumtanzen und gleich darauf schlich auf den Knien und Ellbogen ein Menschengerippe durch den Eingang in den Raum.
Wie das Gerippe herankam, machte es eine Bewegung gegen die Leute, wodurch sie gezwungen waren, in der gleichen Stellung, wie das Gerippe, auf Knie und Ellbogen zu fallen. Es wandte sich nun um und kroch, wie es gekommen war, von den Leuten, die ihm nachgehen mußten, gefolgt, hinaus. Draußen kroch es weiter zum Dorf hinaus, noch immer gefolgt von den Leuten: bald darauf verschwand es und alle waren tot. Einige Dorfbewohner waren nicht dagewesen, als das Gerippe, der Tunghak, gekommen war und als sie zurückkamen, sahen sie überall Leichen herumliegen. Als sie ins Haus gingen, fanden sie den Waisenknaben und der erzählte, wie die anderen umgekommen waren. Sie verfolgten dann die Spuren des Tunghak und kamen jenseits des Hügels an ein uraltes Grab, bei dem die Spuren endeten.
Einige Tage darauf ging der Bruder eines der toten Männer aufs Meereis hinaus, ziemlich weit weg vom Dorf, um zu fischen. Er blieb lange und die Dunkelheit überraschte ihn, als er noch weit draußen war. Als er so dahinging, erschien plötzlich der Tunghak vor ihm und lief immer auf seinem Weg hin und her. Der junge Mann versuchte an ihm vorüberzukommen und zu entfliehen, konnte es aber nicht, denn der Tunghak blieb immer vor ihm und tat immer dasselbe wie er. Als ihm nichts mehr einfiel, nahm er plötzlich einen Fisch aus seinem Korb und warf ihn auf den Tunghak. Als er den Fisch herauszog war er steif gefroren, aber als er in die Nähe des Tunghak kam, kehrte er plötzlich um und fiel über die Schultern des Jünglings zurück in den Korb und schlug darin herum, denn er war wieder lebendig geworden.
Jetzt zog der Fischer einen seiner Hundsfellfäustlinge aus und warf ihn hin. Wie der nun in der Nähe des Tunghak niederfiel, wurde er ein Hund, der das Gespenst anbrummte und anknurrte und so seine Aufmerksamkeit auf sich lenkte, so daß der Mann vorbei und so schnell er nur konnte zum Dorf lief. Als er ein Stück Wegs zurückgelegt hatte, wurde er wieder vom Tunghak aufgehalten und gleichzeitig sprach eine Stimme von oben: "Bind ihm doch seine Füße auseinander, sie sind mit einer Schnur zusammengebunden." Er hatte aber zu große Angst, um das auszuführen. Er warf also lieber noch einen anderen Fäustling und auch der verwandelte sich in einen Hund, der wie der erste den Tunghak aufhielt.
Der Jüngling lief so rasch er konnte davon und fiel erschöpft bei der Haustür nieder, als auch schon der Tunghak kam. Der ging, ohne ihn zu bemerken, knapp an ihm vorüber ins Haus hinein, fand aber niemand drin und kam wieder heraus. Der junge Mann stand nun auf und ging hinein; er wagte es aber nicht, was er gesehen hatte seiner Mutter zu erzählen. Am folgenden Tag ging er wieder fischen und stieß unterwegs auf einen Mann, der am Weg lag. Seine Hände und sein Gesicht waren ganz schwarz. Als er näher kam, forderte ihn der schwarze Mann auf, ihm auf den Rücken zu steigen und die Augen zu schließen. Er folgte und bald darauf durfte er die Augen wieder öffnen. Als der Jüngling dies tat, sah er gerade vor sich ein Haus und in dessen Nähe ein schönes junges Weib. Sie sprach zu ihm: "Warum hast du vorige Nacht nicht getan, wie ich dir geraten, als der Tunghak dich verfolgte?" Er antwortete, daß er sich gefürchtet habe. Das Weib gab ihm dann einen zauberkräftigen Stein als Talisman, der ihn in Hinkunft vor den Tunghak schützen sollte und dann nahm ihn der schwarze Mann wieder auf den Rücken und als er die Augen öffnete, war er zu Hause.
Seit dieser Zeit wollte der junge Mann als Zauberer angesehen werden,
dachte aber immer nur an das schöne Weib, das er gesehen hatte, so
daß er nicht viel Kräfte besaß. Schließlich sagte
sein Vater zu ihm: "Du bist gar kein Zauberer! Du machst mir nur
Schande; geh wo anders hin!" Am nächsten Morgen verließ
der Jüngling bei Tagesanbruch das Dorf und man hat nie wieder etwas
von ihm gehört. -
Quelle: Eskimomärchen,
übersetzt von Paul Sock, Berlin o. J. [1921], Nr. 22, S. 81.
aus: E. W. Nelson: The Eskimo about Beringstrait (Annual Report of American
Ethnology, Vol XVIII/1, Washington 1896/97.