Das Land des Todes
In einem Dorf am unteren Yukon lebte eine junge Frau; sie wurde krank und starb. Als der Tod über sie kam, verlor sie für einige Zeit das Bewußtsein. Dann schüttelte sie jemand, daß sie erwachte und sprach zu ihr: "Steh auf, schlafe nicht; du bist tot!" Sie schlug die Augen auf, bemerkte, daß sie in einem Grabkasten lag und der Schatten ihres verstorbenen Großvaters neben ihr stand. Er streckte die Hand aus, um ihr zu helfen, sich aus dem Grab zu erheben und gebot ihr, sich umzusehen. Sie tat so und sah viel Leute, die sie alle erkannte, sich im Dorf herumtreiben. Dann drehte sie der alte Mann herum, mit dem Rücken gegen das Dorf und sie sah, daß die ihr so wohlbekannte Gegend verschwunden war; an ihrer Stelle lag ein unbekanntes Dorf da, das sich so weit, als ihr Blick nur reichte, erstreckte. Sie gingen in dieses Dorf und der alte Mann hieß sie in eines der Häuser eintreten. Als sie eintrat, hob eine alte Frau, die da saß, ein Holzscheit, um sie zu schlagen und fragte ärgerlich: "was willst du hier?" Schreiend lief sie hinaus und erzählte dem alten Mann von der Frau. Er erzählte: "Dies hier ist das Dorf der Hundeschatten und du hast nun gesehen, wie es den lebenden Hunden zumute ist, wenn sie von den Leuten geprügelt werden."
Sie gingen von da weiter und kamen an ein anderes Dorf, in dem ein großes Haus stand. Ganz in der Nähe dieses Dorfes sahen sie einen Mann am Boden liegen; aus allen seinen Gelenken wuchs Gras hervor und er konnte sich zwar bewegen, aber nicht aufstehen. Der Großvater erzählte, dieser Mann sei so bestraft worden, weil er Gras ausgerissen und Grasstengel gekaut hatte, als er noch auf Erden war. Nachdem sie einige Zeitlang diesen Schatten neugierig betrachtet hatte, wandte sie sich, um etwas zu sagen, nach ihrem Großvater. Er war aber verschwunden. Vor ihr lag ein Weg, der zu einem weiter entfernten Dorf führte. Sie folgte ihm und kam bald an einen reißenden Fluß, der ihren Weg versperrte. Dieser Fluß waren die Tränen der Leute, welche auf Erden die Toten beweinen. Als das Mädchen sah, daß sie nicht hinüber konnte, setzte sie sich ans Ufer und begann zu weinen. Wie sie ihre Augen trocknete, sah sie eine Menge Kehricht und Abfall, wie er aus den Häusern geworfen wird, den Fluß herabschwimmen und sich gerade vor ihr zusammenstauen. Wie auf einer Brücke überschritt sie darauf den Fluß. Kaum war sie am anderen Ufer, da verschwand das Zeug und sie ging ihren Weg weiter. Bevor sie noch das Dorf erreichte, hatten die Schatten sie bemerkt und riefen: "Es ist jemand angekommen." Als sie hin kam, umdrängten sie die Schatten und fragten: "Wer ist sie? Von wo kommt sie?" Sie besahen ihre Kleider und fanden die Totemzeichen, die ihre Stammeszugehörigkeit anzeigten; in alten Zeiten hatten nämlich die Leute ihre Totemzeichen an ihren Kleidern und anderen Gegenständen, so daß man daran die Mitglieder eines jeden Dorfes und jeder Familie erkennen konnte.
Da rief jemand: "Wo ist sie, wo ist sie denn?" und sie sah den Schatten ihres Großvaters auf sich zukommen. Er nahm sie bei der Hand und führte sie in der Nähe in ein Haus. An der Rückwand saß eine alte Frau, die etwas murmelte und dann sagte: "Komm und setze dich zu mir!" Es war ihre Großmutter und sie fragte das Mädchen, ob es nicht etwas trinken wolle und fing gleichzeitig an zu weinen. Das Mädchen wurde ganz traurig, sah sich um und bemerkte einige ganz merkwürdige Wassereimer, von denen nur ein einziger, der fast leer war, so wie die in ihrem Dorf aussah.
Die Großmutter riet ihr, nur aus diesem zu trinken, denn darin sei ihr gewohntes Yukonwasser, während die anderen alle mit dem Wasser des Totendorfes gefüllt seien. Als sie dann hungrig wurde, gab ihr die Großmutter ein Stück Renntierfleisch, das ihr Sohn, der Vater des Mädchens, ihr einst bei einem Totenfest zugleich mit dem Wassereimer, aus dem sie eben getrunken habe, gegeben.
Die Großmutter erzählte dem Mädchen noch, daß ihr Großvater ihr Führer geworden sei, weil sie im Sterben an ihn gedacht hatte. Wenn ein Sterbender nämlich an seine verstorbenen Verwandten denkt, vernimmt man das im Schattenreich und derjenige, dessen der Sterbende gedenkt, beeilt sich, dem neuen Schatten den Weg zu weisen.
Als für das Heimatdorf des toten Mädchens die Zeit des Totenfestes kam, wurden, wie gewöhnlich, zwei Boten ausgesandt, um die Bewohner der Nachbardörfer einzuladen. Nach einem der Dörfer gingen die Boten lange Zeit, und bevor sie es noch erreichten, überraschte sie die Dunkelheit; endlich hörten sie aber vom Festhaus her Tanzlärm und Trommelschlag. Sie traten ein und überbrachten den Leuten ihre Einladung zum Totenfest.
Hier saßen die Schatten des Großvaters und der Großmutter und zwischen ihnen der des Mädchens unsichtbar bei den Leuten und als am nächsten Tag die Boten in ihr Heimatdorf zurückkehrten, folgten ihnen, immer unsichtbar, die Schatten. Als da das Fest schon fast zu Ende war, wurde der Mutter des toten Mädchens Wasser gereicht und sie trank davon. Dann gingen die Schatten aus dem Festhaus, um zu warten, bis bei der Zeremonie, bei welcher die Namensvetter der Toten ihre Kleider annehmen, ihre Namen aufgerufen würden.
Wie die Schatten dazu also aus dem Haus gingen, gab der alte Mann dem Mädchen im Eingang einen Stoß, sodaß sie umfiel und ihr Bewußtsein verlor. Als sie wieder erwachte, sah sie sich um und fand sich allein. Sie erhob sich, stellte sich im Eingang unter die Lampe und wartete auf die anderen beiden Schatten, um sich ihnen anzuschließen. Sie wartete da, bis alle Lebenden in den schönen neuen Kleidern herauskamen, aber von ihren Schattengefährten sah sie keinen.
Bald darauf kam ein alter Mann mit einem Stock hereingehumpelt, und als er aufsah, bemerkte er den Schatten, dessen Füße mehr als eine Spanne hoch über dem Boden schwebten. Er fragte, ob das eine Lebende oder ein Schatten sei, bekam aber keine Antwort und ging rasch ins Haus hinein. Hier sagte er den Männern, sie sollten rasch hinauslaufen und das fremde Wesen im Eingang, dessen Füße den Boden nicht berühren, und das nicht aus dem Dorf sei, ansehen. Alle liefen hinaus und als sie sie sahen, stellten einige ihre Lampen nieder und in ihrem Schein wurde sie erkannt und lief nun ins Haus ihrer Eltern.
Wie man sie da eintreten sah, glich sie in Gestalt und Farbe völlig einer Lebenden, aber sowie sie sich niedersetzte, erblaßte ihre Farbe und sie schwand dahin, bis sie nichts war als Haut und Knochen und zu schwach war, um sprechen zu können.
Frühmorgens des nächsten Tages starb ihre Namensvetterin, eine
Frau aus demselben Dorf und ihr Schatten ging anstelle des Mädchens,
welches wieder zu Kräf* ten kam und noch viele Jahre lebte, ins Land
des Todes.
aus: E. W. Nelson: The Eskimo about Beringstrait (Annual Report of American Ethnology, Vol XVIII/1, Washington 1896/97.