Qaudjaqdjug
Vor langer Zeit lebte ein armer Waisenknabe, der keinen Beschützer hatte und von allen Dorfbewohnern mißhandelt wurde. Er durfte nicht einmal in der Hütte schlafen, sondern mußte draußen im kalten Eingang liegen, bei den Hunden, die ihm Kissen und Decke waren. Er bekam auch kein Essen, sondern man warf ihm alten zähen Walroßspeck vor, den er ohne Messer verzehren mußte. Ein junges Mädchen war die einzige, die ihn bemitleidete; sie gab ihm ein kleines Stück Eisen als Messer, bat ihn aber, es ja gut zu verbergen, sonst würden die Männer es ihm wegnehmen. Er tat so und steckte es in sein Gewand. So führte er ein elendes Leben und wuchs nicht einmal, sondern blieb der arme, kleine Qaudjaqdjug. Nicht einmal mit den anderen Kindern konnte er spielen, da sie ihn wegen seiner Schwäche ebenso quälten und mißhandelten, wie alle anderen.
Wenn die Dorfbewohner sich im Festhaus versammelten, pflegte Qaudjaqdjug im Eingangsflur zu liegen und über die Schwelle zu gucken. Hie und da zog ihn ein Mann an der Nase in die Hütte und gab ihm das große Uringefäß, um es auszuschütten. Das war so groß und schwer, daß er es mit beiden Händen und den Zähnen halten mußte. Da er immer an den Nasenflügeln gezogen wurde, waren sie sehr groß, obwohl er selbst klein und schwach blieb.
Schließlich kam der Mann im Mond, der gesehen hatte, wie schlecht sich die Leute gegen Qaudjaqdjug benahmen, herunter, um ihm zu helfen. Er spannte seinen Hund Terii-tiaq vor einen Schlitten und fuhr herunter. In der Nähe der Hütte machte er Halt und schrie: "Qaudjaqdjug, komm heraus!" Der antwortete: "Ich will nicht herauskommen, geh weg!" Als er ihn aber ein zweites und drittesmal herauskommen hieß, gehorchte er, obwohl er große Angst hatte. Dann ging der Mann vom Mond mit ihm zu einem Platz, wo einige große Steine herumlagen und nachdem er ihn geschlagen hatte, fragte er: "Fühlst du dich jetzt stärker?" "Ja, ich fühl' mich stärker." "Dann heb diesen Stein." Da Qaudjaqdjug ihn noch nicht heben konnte schlug er ihn wieder und jetzt begann er plötzlich zu wachsen; zuerst wurden seine Füße ganz außerordentlich groß. Wieder fragte ihn der Mann im Mond: "Fühlst du dich jetzt stärker?" Qaudjaqdjug antwortete: "Ja, ich fühle mich schon stärker." Da er aber den Stein noch immer nicht heben konnte, wurde er nochmals geschlagen. Daraufhin bekam er riesige Kräfte und hob den Stein, als ob es ein kleiner Kiesel wäre. Der Mondmann sagte: "Das wird langen; morgen werde ich drei Bären schicken, dann magst du deine Kraft beweisen."
Er kehrte in den Mond zurück; Qaudjaqdjug, der jetzt der große Qaudjaqdjug geworden war, ging nach Hause und schleuderte mit den Füßen die Steine nach rechts und links, daß sie nur so flogen. Nachts legte er sich wieder zu den Hunden. Am nächsten Morgen erwartete er die Bären und wirklich erschienen bald drei große Tiere und erschreckten alle Männer so, daß sie sich nicht aus den Hütten wagten.
Da zog Qaudjaqdjug seine Stiefel an und lief hinunter aufs Eis. Ein Mann,
der aus dem Fensterspalt guckte sagte: "Schaut her, ist das nicht
Qaudjaqdjug? Die Bären werden bald mit ihm sich auf den Weg machen."
Er aber packte den ersten bei den Hinterbeinen und schlug seinen Kopf
gegen einen Eisberg, in dessen Nähe er gerade stand. Dem anderen
ergings nicht besser. Den dritten aber trug er zum Dorf hinauf und erschlug
einige seiner Feinde mit ihm. Andere würgte er mit den Händen
zu Tode, oder er spaltete ihre Köpfe und schrie: "Das ist dafür,
daß ihr mich mißhandelt habt; das ist für eure Quälereien!"
Die er nicht umbrachte, liefen weg, um niemals wiederzukehren. Nur einige,
welche zum kleinen, armen Qaudjaqdjug freundlich gewesen waren, darunter
auch das Mädchen, welches ihm das Messer geschenkt hatte, verschonte
er. Qaudjaqdjug lebte dann als großer Jäger weiter und zog,
viel Heldentaten vollbringend, durchs Land. -
Quelle: Eskimomärchen,
übersetzt von Paul Sock, Berlin o. J. [1921], Nr. 26, S. 95.
aus: F. Boas: Central Eskimo (Annual Report of American Ethnology, Vol
VI. Washington 1888).