Der Rabe, der Wal und der Nörz (Geschichte vom Raben Tu-lu-kau-guk III.)

Nachdem der Rabe sein Kleid am Feuer getrocknet hatte, sah er zufällig aufs Meer hinaus, bemerkte einen großen Wal die Küste entlang ziehen und sagte: "Wenn du wieder emporkommst, mach deine Augen zu und das Maul weit auf." Dann legte er rasch sein Rabengewand an, zog die Maske vor, nahm seinen Feuerbohrer unter einen Flügel und flog hinaus übers Wasser. Der Wal kam bald wieder an die Oberfläche, und tat, wie ihm befohlen worden war und sobald der Rabe das offene Maul sah, flog er stracks hinein und in den Bauch des Wals. Der Wal schloß sein Maul und tauchte unter, während der Rabe sich umsah und bemerkte, daß er am Eingang eines schönen Raumes war, an dessen einem Ende eine Lampe brannte. Er trat ein und war erstaunt da ein schönes junges Weib sitzen zu sehen. Der Raum war rein und trocken; seine Decke wurde vom Rückgrat des Wals getragen und seine Rippen formten die Wände. Aus einer Röhre, die sich die Wirbelsäule des Wals entlang zog, tropfte langsam Tran in die Lampe. Als der Rabe eintrat, sprang das Weib auf und schrie: "Wie kommst du daher? Du bist der erste Mann der je hierherkam!" Der Rabe erzählte nun, wie er hereingekommen und sie lud ihn ein, sich auf die andere Seite des Raumes zu setzen. Diese Frau war der Geist des Wals, der ein weibliches Tier war. Dann bereitete sie ein Essen, gab ihm Beeren und Tran und erzählte zugleich, daß sie die Beeren vor einem Jahr gesammelt habe. Der Rabe blieb vier Tage lang als Gast des Geistes da und wunderte sich nur immer, was denn das für eine Röhre sei, die die Decke entlang führte. So oft die Frau den Raum verließ, befahl sie ihm, sie ja nicht anzurühren. Als sie wieder einmal hinausgegangen war, ging er zur Lampe, steckte seine Pfote aus und fing einen großen Trantropfen auf und leckte mit der Zunge daran. Das schmeckte so süß, daß er noch mehrere Tropfen auffing und sie verschluckte, wie sie herabfielen. Es wurde ihm aber bald zu langweilig und so kroch er hinauf, riß ein Stück von der Rohrwand los und verzehrte es. Kaum war das geschehen, so floß auch schon ein ganzer Sturzbach von Tran in den Raum und löschte die Lampe aus, während der ganze Raum selbst wild hin und herzurollen begann. Das dauerte fast vier Tage lang und der Rabe war halbtot vor Müdigkeit und den Quetschungen die er erhalten hatte. Dann stand der Raum still und der Wal war tot, denn der Rabe hatte eines seiner Herzgefäße aufgerissen. Der Geist kam nie in den Raum zurück und der Wal trieb an die Küste.

Der Rabe merkte nun, daß er gefangen war und während er darüber nachdachte, wie er entkommen könnte, hörte er, wie sich oben auf dem Wal zwei Leute unterhielten und den Vorschlag machten, alle ihre Dorfgenossen herzuführen. Das war rasch geschehen und bald hatten die Leute in den oberen Teil des Wals ein Loch gemacht. Dies Loch wurde dann erweitert, bis der Rabe, als alle gerade eine Fleischladung an die Küste trugen, entschlüpfen und sich unbemerkt auf der Spitze eines nahen Hügels niederlassen konnte; da fiel ihm ein, daß er seinen Feuerbohrer vergessen hatte und er rief aus: "Oh, ich hab meinen guten Feuerbohrer vergessen!" Schnell streifte er die Rabenmaske und die Rabenkleider ab, wurde wieder ein junger Mann und ging die Küste entlang auf den Wal zu. Die Leute beim Wal sahen bald den kleinen, in ein seltsam zusammengenähtes, dunkles Renntierfell gekleideten Mann auf sich zukommen und starrten ihn verdutzt an. Der Rabe trat näher und sagte: "Ho, ihr habt einen schönen großen Wal gefunden, ich will euch helfen ihn zu zerlegen!" Er streifte seine Ärmel hoch und ging ans Werk. Bald darauf schrie ein Mann, der drinnen im Walkörper arbeitete, herauf: "Ah, seht was ich gefunden habe, einen Feuerbohrer im Walfisch." Sofort streifte der Rabe seine Ärmel herunter und sagte: "Das ist sehr schlimm, denn meine Tochter hat mir gesagt, daß wenn die Leute in einem Walfisch einen Feuerbohrer finden und ihn noch weiter aufschneiden, die meisten von ihnen sterben werden; ich lauf weg!" Und er lief weg.

Als der Rabe weg war, sahen die Leute einander an und sagten: "Vielleicht hat er doch recht" und sie liefen alle weg und beim Weggehen suchte ein jeder den Tran von seinen Händen abzustreifen. Der Rabe guckte aus seinem Versteck in der Nähe zu und lachte, wie die Leute so wegliefen. Dann ging er um seine Maske und sein Gewand. Nachdem er sie gefunden, ging er zum Wal zurück, fing an ihn aufzuschneiden und holte das Fleisch am Strand zusammen. Als er an den Schmaus, den dieser Vorrat für ihn abgeben würde, dachte, sagte er: "Danke!" zu den Geistern.

Nachdem er nun Fleisch auf die Seite gebracht, wollte er auch einigen Tran aufbewahren, aber er hatte kein Gefäß, um ihn hineinzutun und so ging er an der Küste auf und ab und suchte einen Seehund. Er war noch nicht weit gegangen, da sah er einen Nörz geschwind herumlaufen und schrie ihn an: "Wem rennst du so schnell nach? Suchst du etwas zu essen?"

Der Nörz blieb stehen und schob, wie es der Rabe mit seinem Schnabel getan hatte, seine Nase wie eine Maske hoch und verwandelte sich in einen kleinen dunkeln Mann. Da rief der Rabe: "Ah, du willst mein Freund sein? Ich habe Nahrung im Überfluß, aber ich bin allein und habe niemanden mit mir." Dem Nörz wars recht und sie gingen nun beide zum Wal zurück und machten sich an die Arbeit. Der Nörz aber mußte das meiste schaffen, denn der Rabe war sehr faul.

Sie machten Graskörbe und Matten für das Fleisch und den Walfischspeck und versorgten große Mengen davon in Bodenlöchern. Nachdem das getan war, bauten sie ein gutes Haus. Als auch das fertig war sagte der Rabe: "Es ist langweilig, geben wir ein Fest!" Und er trug dem Nörz auf, Seevolk einzuladen, das sie unterhalten sollte.

Dem Nörz wars recht und so brach er am nächsten Morgen auf; der Rabe verfertigte indessen einen kurzen, runden Stab und bemalte ihn an dem einen Ende mit zwei Ringen. Nachdem das getan war, sammelte er einen großen Ballen klebriges Rottannen-Harz und legte das mit dem Stab zusammen ins Haus.

Der Nörz kam bald zurück und meldete dem Raben, daß morgen sehr viele Seebewohner zum Fest kommen würden. Der Rabe sagte: "Danke!" Früh am nächsten Morgen rief der Nörz den Raben heraus und zeigte aufs Meer, dessen Oberfläche ganz voll von den verschiedensten Seehundsarten, die alle zum Fest kamen, war. Der Rabe ging ins Haus zurück, während der Nörz hinunter ans Wasser ging, um die Gäste zu empfangen und sie zum Haus zu führen.

Sowie jeder Seehund ans Land kam, hob er seine Maske und wurde ein kleiner Mann und alle gingen ins Haus, bis es voll war. Der Rabe sah die Gäste und rief: "Was für eine Menge Leute? Wie soll ich denn euch allen ein Fest geben können? Ausgeschlossen; gestattet aber erst, daß ich einigen von euch mit diesem Zeug die Augen einschmiere, damit ihr besser sehen könnt, denn es ist hier etwas finster."

Mit dem Harz verschloß er nun allen Seehunden die Augen, nur einen kleinen, der in der Nähe der Türe stand, übersah er. Der letzte Seehund, dessen Augen verschlossen wurde, war auch ein kleiner und sowie seine Augen verklebt waren, wollte er sie öffnen und fing an zu schreien. Der Kleine bei der Tür rief nun den anderen zu: "Der Rabe hat euch allen die Augen zugeklebt und ihr könnt sie nicht öffnen." Nun versuchten alle Seehunde die Augen zu öffnen, aber sie konnten es nicht. Mit dem Stock, den der Rabe Tags zuvor vorbereitet hatte, tötete er nun alle Gäste, indem er sie auf den Kopf schlug und jeder Seehundsmann verwandelte sich, nachdem er getötet war, in einen Seehund. Als der Kleine bei der Tür sah, daß der Rabe seine Genossen tötete, lief er hinaus und entkam als einziger ins Meer.

Nachdem er damit fertig war, wandte sich der Rabe zum Nörz und sagte: "Sieh wie viele Seehunde ich getötet habe; jetzt werden wir genug Behälter für den Tran haben." Dann machten sie Säcke aus den Seehundsfellen und füllten sie mit Tran für den Winter. Seit dieser Zeit sind Rabe und Nörz immer Freunde geblieben und darum will, bis auf den heutigen Tag, kein Rabe das Fleisch eines Nörzes fressen und wäre er noch so hungrig. Den Nörz und den Raben findet man oft in der Tundra ganz nahe beieinander.

Quelle: Eskimomärchen, übersetzt von Paul Sock, Berlin o. J. [1921], Nr. 38, S. 146.
aus: E. W. Nelson: The Eskimo about Beringstrait (Annual Report of American Ethnology, Vol XVIII/1, Washington 1896/97.