Sednamythe
Auf einer Insel lebte einst ein Eskimo mit seiner Tochter Sedna. Seine Frau war schon vor geraumer Zeit gestorben und die beiden führten ein beschauliches Leben. Sedna wuchs zu einem hübschen Mädchen heran und von überall her kamen Freier, die um ihre Hand anhielten, keiner aber konnte ihr stolzes- Herz rühren. Als dann im Frühling das Eis aufbrach, kam ein Eissturmvogel übers Eis gepflogen und freite um Sedna, indem er sang: "Komm zu mir! Komm ins Land der Vögel, wo nie Hungersnot herrscht, wo mein Zelt aus den allerschönsten Fellen errichtet ist. Auf weichen Bärenfellen wirst du ruhen, was dein Herz nur begehren mag, werden meine Gefährten, die Eissturmvögel, herbeibringen; ihre Väter werden dich kleiden, deine Lampe wird immer mit Fett gefüllt sein, deine Schüsseln immer mit Speisen!" Solchem Werben konnte Sedna nicht lange widerstehen und sie zogen zusammen über das weite Meer.
Als sie schließlich nach langer, beschwerlicher Reise ins Land der Eissturmvögel kamen, entdeckte Sedna bald, daß ihre Hoffnungen schmerzlich getäuscht worden. Ihr neues Heim war nicht aus schönen Fellen, sondern mit erbärmlichen Fischhäuten, voll von Löchern, die Wind und Schnee freiem Eintritt ließen, gedeckt. Statt aus weichen Fellen, bestand ihr Lager aus harter Walroßhaut, und sie mußte von schlechten Fischen, die ihr die Vögel brachten, leben. Zu bald nur erkannte sie, daß sie mit ihren Eskimofreiern ihr Glück abgewiesen hatte. In ihrem Kummer sang sie: "Aja! O Vater, wenn du wüßtest, wie unglücklich ich bin, würdest du in deinem Boot übers Wasser herbei" eilen. Unfreundlich sehen die Vögel auf mich, die Fremde, herab; kalte Winde rütteln an meinem Bett; nur schlechte Nahrung gibt man mir. O komm und nimm mich in die Heimat zurück, Aja!"
Nachdem ein Jahr verstrichen war und die warmen Winde wieder das Meer bewegten, verließ der Vater seine Heimat, um Sedna zu besuchen. Voll Freude begrüßte ihn seine Tochter und beschwor ihn, sie doch wieder nach Hause zu nehmen. Als der Vater von der Schmach, die seiner Tochter angetan worden war, hörte, sann er auf Rache. Er tötete den Eissturmvogel, nahm Sedna in sein Boot und sie verließen rasch das Land, das Sedna so viel schmerzliche Enttäuschung gebracht hatte. Als die anderen Eissturmvögel zurückkamen und ihren Genossen tot fanden und sahen, daß sein Weib entflohen war, flogen sie alle auf, um die Flüchtige zu suchen. Aus Trauer über den Tod ihres armen ermordeten Kameraden, klagten und schrien sie den ganzen Tag.
Nachdem sie eine kurze Strecke geflogen waren, entdeckten sie das Boot und beschworen einen schweren Sturm herauf. Die See erhob sich zu gewaltigen Wogen und Untergang drohte den beiden. In dieser Todesgefahr beschloß der Vater Sedna den Vögeln zu opfern und warf sie über Bord. Mit schwachem Griff klammerte sie sich an den Bootsrand an. Da nahm der grausame Vater ein Messer und schnitt ihr die Fingerspitzen ab; als die ins Meer fielen, verwandelten sie sich in Wale, und die Fingernägel wurden die Knochen der Wale. Da hielt sich Sedna noch fester am Boot an und auch die zweiten Fingerglieder fielen unter dem scharfen Messer und schwammen als Seehunde weg, und als der Vater die letzten Fingerstümpfe abschnitt, wurden Robben daraus. Inzwischen hatte sich der Sturm gelegt, denn die Eissturmvögel glaubten, Sedna wäre ertrunken. Jetzt erlaubte der Vater ihr wieder ins Boot zu kommen. Von dieser Zeit an hegte sie einen tödlichen Haß gegen ihn und schwor bittere Rache.
Nachdem sie gelandet, rief sie ihre Hunde und ließ sie des Vaters
Füße und Hände, als er schlief, abfressen. Da verfolgte
er sie selbst und ihre Hunde, die ihn verstümmelt hatten, worauf
sich die Erde auftat und die Hütte, den Vater, die Tochter und die
Hunde verschlang. Seither lebt Sedna im Lande Adlivun als dessen Beherrscherin.
aus: F. Boas: Central Eskimo (Annual Report of American Ethnology, Vol VI. Washington 1888).