Sonne und Mond
In einem Dorf lebte eine Frau ganz allein in einer Hütte. Eines
Abends, als die Leute im Tanzhaus versammelt war, ging ein Mann zu der
Frau und löschte ihre Lampen aus. Nachher kam er jede Nacht, zur
Zeit als die Leute im Tanzhaus waren. Die Frau wollte erfahren, wer er
sei. Sie fragte ihn oft, aber er nannte seinen Namen nicht, noch gab er
einen Laut von sich. Da sie ihn nicht zum Sprechen bringen konnte, nahm
sie zu einer List ihre Zuflucht. Eines Tages, nachdem er gekommen war,
rieb sie ihre Finger auf dem Boden einer ihrer Töpfe und dann über
die linke Seite seines Gesichts. Nach einer Weile verließ er sie.
Sie folgte ihm gleich und als sie aus dem Hause kam, hörte sie ein
großes Gelächter im Tanzhaus. Sie ging hinein , und sah dort,
daß die Leute über ihren eigenen Bruder lachten, der die Spuren
ihrer Finger in seiner linken Gesichtshälfte trug. Da nahm sie ein
Messer, schnitt ihre linke Brust ab und bot sie ihm an mit den Worten:
"iß das!". Sie hob ein Stück Holz auf, wie man es
braucht, um Lampen zu putzen und zündete es an. Er nahm auch einen
Kienspahn in seine Linke und folgte ihr. Sie ging aus dem Haus, und lief,
von ihrem Bruder verfolgt, darum herum. Schließlich fiel letzterer.
Die Flamme seines Spans ging aus, während ihrer hell weiter brannte.
Sie wurde in den Himmel erhoben und in die Sonne verwandelt. Er wurde
der Mond. -
Quelle: Eskimomärchen,
übersetzt von Paul Sock, Berlin o. J. [1921], Nr. 7, S. 35.
aus: F. Boas, Eskimo, in: Bulletin of the american Museum of natural history
(Vol XV, New York 1907).