Gevatter Charos. (Lesbos.)
Es war einmal ein sehr armer Mann, der wünschte sich den Charos zum Gevatter zu nehmen, und führte es auch wirklich aus. Weil er nun so arm war, gab ihm Charos den Rath, Arzt zu werden: auf diese Weise werde er zu Reichthümern gelangen. 'Wenn du mich,' sagte er, 'zu Füssen des Kranken sitzen siehst, da gibst du ihm einige Tropfen gefärbten Wassers ein, und er wird genesen. Siehst du mich an seinem Leibe sitzen, machst du's ebenso. Wenn du mich aber ihm zu Häupten sitzen siehst, da sagst du: »Der Kranke wird sterben, es gibt keine Rettung für ihn,« und gehst weg.' Der Mann that so, wurde ein berühmter Arzt und erwarb sich unermessliche Schätze. Eines Tags nun sagte er zu Gevatter Charos: 'Du willst doch nicht etwa auch mich nun holen?' - 'Nein,' antwortete ihm Charos, 'erst nach drei Jahren hol' ich dich.' Da verliess der Mann, um dem Charos zu entgehen, sein Vaterland, und nach einer Wanderung von einem Jahr kam er in einem Orte an, von dem er glaubte, dass Charos ihn nicht besuche. Allein drei Jahre nach seinem Wegzug aus der Heimath, als er gerade in einem Kaffeehause Kaffee trank, erschien auf einmal Charos vor ihm und sprach: 'Guten Tag, Gevatter! Seit drei Jahren hab' ich dich nicht gesehen! Jetzt ist's Zeit, dass ich deine Seele hole.' Da sagte jener: 'Nicht doch, lieber Gevatter, nicht doch, lieber Charos, nimm mir die Seele nicht, lass mich noch leben!' Aber Charos entgegnete ihm: 'Nein, ich kann nicht anders, Gott hat mich abgeschickt.' Und ohne Weiteres nahm er ihm seine Seele, ohne dass er auch nur seinen Kaffee austrinken konnte. - Charos kennt eben weder Freundschaft noch Verwandtschaft noch Erbarmen; alle Menschen sind in seinen Augen gleich, und wohin auch einer fliehen mag, Charos weiss ihn schon zu finden.
Quelle: Bernhard Schmidt, Griechische Märchen, Sagen und Volkslieder. Leipzig 1877. S. 117 - 118.
(Nachdruck: Hildesheim, New York, 1978)