Die Herrin über Erde und Meer. (Ebendaher.)
Es war einmal und zu einer gewissen Zeit ein König, der hatte drei Söhne. Eines Tages begab er sich auf die Reise, und bei seiner Rückkehr brachte er jedem seiner Söhne ein Geschenk mit. Dem ältesten gab er ein Bild von der Herrin über Erde und Meer. Als der Königssohn dieses Bild sah, wurden seine Sinne bezaubert von seiner Schönheit, und er wollte die Herrin über Erde und Meer aufsuchen, um sie sich zum Weibe zu nehmen. Da er aber nicht wusste, wo sie wohnte, noch wie er's anzufangen hätte, um sie zu gewinnen, beschloss er sich an eine Zauberin zu wenden. Er ging also zu einer solchen, und die sagte ihm, er müsse den Weg einschlagen, der nach seinem Namen benannt sei: auf diesem Wege werde er einen Bogen finden von solcher Beschaffenheit, dass wer mit ihm schiesse unmöglich das Ziel verfehle. Er werde aber auch zwei sehr lange und dicke Haare finden, das seien Haare von dem Wurm mit den drei Köpfen. Die solle er aufheben und mit ihnen und dem Bogen den Weg zur Herrin über Erde und Meer antreten. Um nun aber in deren Wohnung zu gelangen, müsse er den Weg zur Rechten seines Schlosses einschlagen, da werde er an eine Erdöffnung kommen, diese führe zu ihrem Palaste. Wenn er bei ihr angekommen sei, werde sie zunächst von ihm verlangen, dass er ein Fläschchen zerschiesse, ohne die Taube zu tödten, welche dasselbe in ihrem Schnabel trage. Mit dem Bogen werde er dies vollbringen. Hierauf werde sie ihm aufgeben, die Haut des dreiköpfigen Wurms und das Geweih, das derselbe auf seinen Häuptern trage, ihr zu bringen. Da solle er die Haare nehmen und ihr eines Ende an seinen Händen befestigen, das andere aber hängen lassen. Wohin er nun merke, dass die Haare ihn zögen, dahin solle er gehen. So werde er zu dem Wurm gelangen. Der werde ihn fressen wollen, aber er solle nur Muth haben und sich nicht vor seiner Grösse und seinen gewaltigen Zähnen fürchten, sondern ihm schnell einen grossen Haufen Erde hinwerfen, die müsse er aber vorher sich verschaffen, denn dort gebe es keine Erde, sondern nur Steine. Wenn der Wurm an der Erde sich satt gefressen, werde er einschlafen, und nun solle er ihn tödten, ihm die Haut abziehen und auch das Geweih von seinen Häuptern nehmen. Als der Königssohn diese Rathschläge vernommen hatte, suchte er zuerst den Bogen und die Haare, und nachdem er beides gefunden, machte er sich auf nach dem Schloss der Herrin über Erde und Meer. Nach langer Wanderung kam er dort an. Sobald die Herrscherin ihn erblickt und von ihm gehört hatte, dass er gekommen sei sie zu freien, theilte sie ihm mit, welche Befehle er vorher auszuführen habe. Und Tags darauf erhob sie sich, weckte den Jüngling und führte ihn, begleitet von ihrem ganzen Gefolge, in eine sehr schöne Gegend. Auf einen Schlag mit einer Ruthe erschien sofort eine schöne Taube vor ihr. Nun nahm sie ein Fläschchen aus der Tasche und band es um den Hals der Taube und gab dem Jüngling auf, es zu zerschiessen, ohne die Taube zu tödten. Als er sich zum Schusse vorbereitet, liess sie die Taube fliegen. Der Königssohn traf die Flasche, und die Taube flog unbeschädigt zurück und liess sich auf ihrer Herrin nieder. Die sagte nichts, sondern schwieg. Am folgenden Tage aber sagte sie zu dem Jüngling, er müsse ihr noch die Haut des dreiköpfigen Ungeheuers und das Geweih, das es auf seinen Häuptern trage, binnen vier und zwanzig Stunden bringen. Da brach der Königssohn am andern Morgen frühzeitig auf, und nachdem er sich die Haare an die Hände gebunden, merkte er, dass sie ihn nach dem Meere zogen, in der Richtung auf ein kleines Eiland zu, welches wie ein einziger Stein aussah. Am Strande angekommen füllte er zwei Säcke mit Erde, bestieg ein kleines Fahrzeug, das er dort vorfand, und landete drüben an der Insel. Hier sah er aus einer Höhlung drei Häupter hervorblicken mit feuersprühenden Augen und Mäulern, die Flammen aushauchten, dass einen schauderte. Aber der Königssohn warf dem Ungeheuer schnell die Erde hin, an der sättigte es sich, und dann kroch es ganz aus seinem Loch heraus und legte sich schlafen. Da versetzte ihm der Jüngling einen tödtlichen Stich, zog ihm dann die Haut vom Leibe, riss auch das Geweih von den Häuptern ab und kehrte damit zur Herrin über Erde und Meer zurück. Die liess nun einen prächtigen Wagen zurecht machen, stieg mit ihrem zukünftigen Gemahl hinein - und in einem Augenblick waren sie in dessen Lande. Hier verheiratheten sie sich und lebten einige Jahre zusammen, aber immer herrschte Unfriede unter ihnen, und eines Tages gerieth die Herrin über Erde und Meer in solchen Zorn, dass sie den Wassern gebot die ganze Erde zu überschwemmen. Da ertranken sämmtliche Menschen. Sie aber schwebte in der Luft und schaute zu. Nachdem nun alle Menschen ertrunken und die Wasser wieder abgelaufen waren, stieg sie auf die Erde herunter und machte neue Menschen, indem sie Steine säete. Hierauf beherrschte sie wieder die ganze Welt von dem Throne aus, auf dem sie war geboren worden.
Quelle: Bernhard Schmidt, Griechische Märchen, Sagen und Volkslieder. Leipzig 1877. S. 79 - 82.
(Nachdruck: Hildesheim, New York, 1978)