Der König mit den Bocksohren. (Zakynthos.)
Es war einmal und zu einer gewissen Zeit ein junger Bursch, der ging, nachdem sein Vater gestorben war, in Trauerkleidern auf die Wanderschaft, immer der Nase nach. Indem er so dahin wanderte, sah er am Wege ein Schilfrohr stehen, das schnitt er ab und machte sich eine Flöte daraus. Als er nun auf der Flöte bliess, liess diese die Worte ertönen: 'Der König, der fünffach verschleierte, hat Bocksohren.' Er zog, immer auf der Flöte spielend, weiter und kam endlich in die Stadt des fünffach verschleierten Königs. Dieser König hatte wirklich Bocksohren, und seine Moeren hatten einst den Ausspruch gethan, dass, wenn sein Volk dieses erführe, er sterben werde. Darum war sein Kopf stets mit fünf Schleiern verhüllt, und niemand durfte sein Gesicht sehen ausser seinem Barbier, und der allein wusste, wie die Sache stand. Als nun der König von der Ankunft des jungen Mannes Kunde erhielt und erfuhr, was derselbe von ihm sage, gerieth er in Zorn, beschied sofort seinen Barbier zu sich und befahl ihm unter Drohungen anzugeben, wem er das Geheimniss verrathen habe. Der Barbier antwortete ihm zitternd, an dem ersten Tage, da er das Geheimniss erfahren, sei er nicht im Stande gewesen es bei sich zu behalten; er habe es jedoch keinem Menschen offenbart, sondern habe in den Erdboden ein Loch gegraben, seinen Mund hineingesteckt und es der Erde anvertraut; an dieser Stelle nun sei das Rohr emporgewachsen, aus welchem der Jüngling sich seine Flöte gemacht, und nicht dieser, sondern die Flöte bringe das Geheimniss an den Tag. Der König liess den Jüngling kommen, und dieser berichtete ihm unerschrocken die Wahrheit. Da rief der König, indem er des Spruchs seiner Moeren gedachte, seine Tochter zu sich, welche das schönste Mädchen auf Erden war, gab sie dem jungen Manne zur Frau und setzte diesen zu seinem Nachfolger ein. Hierauf zog er die Schleier von seinem Haupte weg, umarmte die Neuvermählten und verschied. Die lebten nun glücklich, wir aber hier noch glücklicher.
Quelle: Bernhard Schmidt, Griechische Märchen, Sagen und Volkslieder. Leipzig 1877. S. 70 - 71.
(Nachdruck: Hildesheim, New York, 1978)