Die verzauberte Königstochter oder der Zauberturm. (Ebendaher.)
Einmal und zu einer gewissen Zeit lebte ein König, der war der grösste, reichste und tugendhafteste unter allen Königen, und wegen seines guten Wandels und seiner guten Werke liebte ihn Gott sehr. Aus Tugendhaftigkeit hatte er sich auch entschlossen, nie eine Frau zu nehmen, sondern Junggesell zu bleiben. Doch hätte er gern Kinder gehabt. Und eines Tages sass er und weinte und klagte sehr darüber, dass er kein einziges Kind hätte, und dass sein Thron vielleicht in schlechte Hände übergehen würde. Da erschien ihm ein Engel und sagte ihm, er solle nicht weinen, er werde ein Kind bekommen aus seiner Wade. Kurze Zeit darauf schwoll das eine Bein des Königs an, und eines Tages, da er auf der Jagd war, stach er sich einen Dorn hinein. Da mit einem Male sprang eine wunderschöne Jungfrau aus der Wade, welche am ganzen Körper bewaffnet war und Lanze und Helm trug. Aber kaum war sie geboren, da wurde sie von einer Lámnissa hinweggerafft und in einen grossen und schönen Thurm gebracht. Hier angekommen sank sie sofort in Schlaf.
Zu derselben Zeit nun lebte ein andrer König, der hatte einen einzigen Sohn, und den wollte er verheirathen. Der Sohn hatte viel reden hören von der im Thurme schlafenden Königstochter, welche die schönste von allen Jungfrauen auf der Welt sei, aber nicht erwachen könne, wenn nicht ein Jüngling sie erlöse. Es kam also dem Königssohn in den Sinn, dieses Mädchen sich zu erwerben. Um nun aber zu erfahren, wie er das anzufangen habe, ging er zu einer Zauberin und befragte sie darüber. Die sagte ihm, er solle drei Thiere beladen, das eine mit Fleisch, das andre mit Getreide und das dritte mit Meerläusen. Mit diesen drei Thieren solle er aufbrechen und immer vorwärts ziehen, bis er an ein altes, dem Einsturz nahes Thor gelange, über welchem geschrieben stehe:
'Eine Wade meine Mutter
Und ein Dornstrauch meine Hebamme.'
Zu diesem Thore solle er sagen: 'Ach, was für ein schönes Thor ist das,' und dann solle er von seinem Pferde absteigen und es reinigen. So werde das Thor nicht einstürzen und ihn erschlagen. Nachdem er dann hindurchgegangen, werde er auf einige Löwen stossen, die würden drohen ihn zu fressen, aber er solle nur nicht zagen, sondern ihnen das Fleisch vorwerfen. Hierauf werde er einer ungeheuren Menge Ameisen begegnen, und die würden ihn ebenfalls fressen wollen, aber er solle ihnen nur gleich das Getreide vorwerfen, da würden sie ihn verschonen. Endlich werde er beim Uebergang über einen Fluss einen gewaltigen Fisch antreffen, der werde ebenfalls Miene machen ihn zu fressen. Dem solle er nur die Säcke mit den Meerläusen vorwerfen, da werde das Thier ihm nichts anhaben. Nachdem der Königssohn diese Anweisungen von der Zauberin erhalten hatte, rüstete er alles zu, und den andern Tag machte er sich auf den Weg. Er kam an das Thor, that, wie die Alte ihn geheissen, und ging dann ungefährdet durch. Hierauf traf er auch die Löwen, die frassen das ihnen vorgeworfene Fleisch und sprachen dann zum Königssohn: 'Hier hast du drei Haare von unsren Mähnen, und wenn du in den Fall kommst, unserer zu bedürfen, so wirf nur die Haare ins Feuer, da werden wir gleich bei dir sein.' Nun zog der Königssohn weiter und kam zu den Ameisen, die verzehrten das ihnen hingeworfene Getreide und gaben ihm darauf einen von ihren Flügeln und sagten ihm dasselbe, was die Löwen ihm gesagt hatten. Jetzt musste er auch den Fluss überschreiten. Da sprang ein ungeheurer Fisch heraus, der ihn verschlingen wollte. Aber sogleich warf ihm der Jüngling die Meerläuse hin, da liess ihn der Fisch vorüberziehen und gab ihm auch eine Schuppe von seinem Leibe und sagte ihm, wenn er ihn brauche, so solle er die Schuppe ins Feuer werfen. Nun kam der Jüngling an dem Thurme an und trat ein, da erwachte sogleich die Königstochter, und es waren gerade, seit sie eingeschlafen, vierzig Tage und Nächte vergangen. Sobald sie erwacht war, sagte sie zu dem Königssohne: 'Ach, du bist also derjenige, der mich befreien wird. Aber du hast noch viel zu bestehen. Die Alte, die Lámnissa, wird dich in einen grossen Raum einschliessen, da befinden sich in der einen Hälfte vier Tausend Rinder, und die andre ist mit Weizen, Gerste und Mais in bunter Mischung angefüllt. Und in einem einzigen Tage musst du von den Rindern abtrennen und ordnen die Eingeweide, die Häute, die Bäuche, das Fleisch und die Knochen. Von den durch einander liegenden Getreidekörnern aber musst du an demselben Tage jede Art aussondern. Am Abend wird dann die Alte eine Nadel in den Fluss werfen, die du binnen einer Viertelstunde finden musst.' Den andern Morgen ward der Königssohn in den grossen Raum eingeschlossen. Da nahm er aus seiner Tasche die drei Haare von den Mähnen der Löwen und warf sie ins Feuer. Sogleich waren die Löwen zur Stelle, und diese mit ihren Zähnen und ihren Tatzen tödteten die Rinder und verrichteten die vorgeschriebene Arbeit vollständig. Darauf warf der Königssohn auch den Flügel, den er von den Ameisen erhalten hatte, ins Feuer. Sofort kamen diese und ordneten mit dem Munde das ganze Getreide. Am Abend kam die Alte mit der Jungfrau herein und sah zu ihrem Erstaunen, dass alles gemacht war. Nun führte sie den Königssohn an den Fluss und warf die Nadel hinein. Der hatte aber bereits die Schuppe, die er vom Fisch bekommen, ins Feuer geworfen, und in dem Augenblick, da er ins Wasser sprang, eilte der Fisch herbei, ergriff die Nadel und brachte sie ihm. So stieg der Königssohn mit der Nadel wieder aus dem Wasser heraus und gab sie der Alten zurück. Nun ergriff er seine Geliebte und setzte mit ihr auf das andere Ufer des Flusses, wo die Ameisen und die Löwen waren. Die Lámnissa aber wollte die Königstochter auch jetzt noch nicht ziehen lassen und rief den Löwen und den Ameisen zu, sie sollten den Jüngling fressen. Aber vergebens! Da jagte sie selber den Fliehenden nach, um die Königstochter wieder zu gewinnen, die aber warf einige Haare hinter sich, und aus ihnen entstand ein grosser See, der zwischen den Fliehenden und der Lámnissa sich ausbreitete, und diese nöthigte von der Verfolgung abzustehen. Der Königssohn brachte seine Geliebte glücklich nach Hause und verheirathete sich mit ihr. Und Gott, der das Mädchen sehr liebte, verlieh ihm als Mitgift die Gabe, die Zukunft zu schauen, und erhob es so wie zu einer Göttin.
Quelle: Bernhard Schmidt, Griechische Märchen, Sagen und Volkslieder. Leipzig 1877. S. 76 - 79.
(Nachdruck: Hildesheim, New York, 1978)