Vom singenden, tanzenden und musizierenden Blatte (La foglia, che canta, che balla e che suona)
Ein guter Vater, ein Kaufmann, sprach einmal zu seinen drei Töchtern: "Liebe Kinder, ich muss in die Stadt reisen und will euch etwas mitbringen. Was freut euch denn am meisten?" Da verlangte die erste ein schönes Kleid und die zweite eine schöne Halskette, die dritte aber und jüngste sagte: "Lieber Vater, was mich am meisten freute, wäre das Blatt, welches singt und tanzt und musicirt; wenn Ihr mir das brächtet, wär' es mir ein grosser Gefallen." Da zuckte der Vater die Achseln, sagte aber: "Ich will das Mögliche thun."
Er ging und kaufte in der Stadt den beiden ältem Schwestern, was sie erbeten hatten, aber Niemand vermochte ihm Auskunft zu geben, wo er ein solches Blatt finden möchte, wie es seine jüngste Tochter verlangt hatte. "Ich kann ihr diesmal den Gefallen nicht thun" sagte er und begab sich auf den Weg nach Hause. Unterwegs aber hörte er eine wunderschöne Musik mit Gesang und kam zum Thore eines Palastes, da trat er ein und kam in einen grossen Garten. In der Mitte desselben stund ein Baum, daran waren alle Blätter in tanzender Bewegung und sangen und musicirten auf das Herrlichste. "Das ist also die Musik, die ich gehört habe", sagte er zu sich selbst, "und ein solches Blatt will meine Tochter. Aber eh' ich eines nehme, muss ich doch um Erlaubniss fragen." Er suchte im ganzen Garten, aber er fand Niemanden. Dann ging er über die Stiegen hinauf, da standen im Saale Tafeln mit köstlichen Speisen und Getränken beladen, aber es war im ganzen Palaste keine Seele zu finden. Er rührte nichts an, sondern kehrte in den Garten zurück und dachte: "Weil Niemand da ist, der mich sieht, kann ich wol ein Blatt nehmen." Er brach ein Blatt ab, doch in demselben Augenblicke erschien eine grosse Schlange und sagte: "Weil du ein Blatt genommen hast, so fordere ich von dir, dass du die erste Person, der du zu Hause begegnest, binnen drei Tagen zu mir schickest; weh' dir, wenn du es nicht thust!"
Der Vater ging mit dem Blatte, aber er war betrübt und dachte immer: "Wer wird mir wol [wohl] zu Hause zuerst begegnen? Wenn es nur nicht am Ende gar eine meiner Töchter ist!" Und seine Ahnung betrog ihn nicht; denn als er nach Hause kam, trat ihm zuerst seine jüngste Tochter entgegen und fragte sogleich: "Vater, habt Ihr das Blatt?" "Ich hab' es", sagte er traurig, "aber es kommt dir theuer [teuer] zu stehen." Nun erzählte er ihr, auf welche Weise er zum Blatte gekommen sei und welche schwere Bedingung daran geknüpft wäre. Das Mädchen aber war gar nicht traurig und sagte: "Ich gehe schon, mein Tod wird's auch nicht sein."
Sogleich nahm sie Abschied und begab sich in jenen Palast; dort sagte die Schlange zu ihr: "Nun sollst du bei mir bleiben und hast alles, was du willst, in Hülle und Fülle. Aber erinnere dich auch, dass du nie etwas thun sollst, ohne es mir zu sagen und meine Erlaubniss einzuholen." Das Mädchen versprach es, blieb im Palaste und hatte alles, was sie wünschte.
Nach einiger Zeit berichteten ihr die Schwestern, dass sie beide an einem und demselben Tage Hochzeit hielten und luden sie ein zu kommen, wenn es ihr möglich wäre. Das Mädchen ging zur Schlange und sagte: "Meine beiden Schwestern haben mir die Nachricht zugesandt, dass sie sich verheiraten und haben mich zur Hochzeit eingeladen; nun bitt' ich dich mir die Erlaubnis zu geben, dass ich hingehen darf." "Das sollst du," sagte die Schlange, "aber ich will auch mit dir kommen." "Das kann nicht sein", erwiederte das Mädchen, "denn du bist ein schreckliches Thier [Tier] und würdest alle Leute in Furcht setzen." "Ich habe dir gesagt", versezte die Schlange, "dass ich auch mitkommen will." Da getraute sich das Mädchen nichts mehr dagegen zu reden und antwortete nur: "Wenn du es so befiehlst, so muss es geschehen."
Als der bestimmte Tag gekommen war, befahl die Schlange dem Mädchen sich auf ihren Rücken zu setzen und trug es in wenigen Augenblicken in das Haus ihres Vaters. Als die Leute dies sahen, erschracken sie anfangs gewaltig; da aber die Schlange ganz ruhig war und immer beim Mädchen blieb, legten sie ihre Scheu ab und wurden wieder fröhlich und lustig. Nach dem Male wurde ein Tanz angestellt. Da sagte die Schlange zum Mädchen: "Sieh, deine Schwestern tanzen mit ihren Bräutigamen und jeder Tänzer hat seine Tänzerin; nur ich bin verlassen und habe keine, darum tanze du mit mir!" Das Mädchen entgegnete: "Mir graust vor dir, ich kann nicht!" "Tanz mit mir", wiederholte die Schlange. Da gab das Mädchen nach, fasste die Schlange in die Arme und tanzte; während des Tanzes aber trat sie der Schlange so heftig auf den Schwanz, dass sie denselben zerquetschte. Da machte die Schlange einen Ruck und das Mädchen wollte einen Schrei des Schreckens ausstossen — aber es ward ein Schrei des Staunens und der Freude, denn die Schlange war verschwunden und in ihren Armen lag ein bildschöner Jüngling. Der war ein reicher Grafensohn und war nun vom Zauberbanne befreit. Da kam zu den zwei Paaren das dritte und nach vielen Freuden und Lustbarkeiten führte der junge Graf seine glückliche Frau zu seinen hocherfreuten Aeltern [Eltern].
Das ist die Geschichte vom singenden, tanzenden und musicirenden [musizierenden] Blatte. Vielleicht steht das seltene Bäumchen noch im Garten und wenn du brav und folgsam bist, mein Kind, und wenn der Graf und die Gräfin dir es erlauben, darfst du dir auch ein Blättlein nehmen
Quelle: Märchen und Sagen aus Wälschtirol,
Ein Beitrag zur deutschen Sagenkunde, gesammelt von Christian Schneller,
Innsbruck 1867, Nr. 25, Seite 63
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Helene Wallner, 2007.
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