11. Der Blinde (L' orbo)
(Vgl. Zingerle, Märchen II. S. 319.)
Eine arme Mutter hatte zwei Söhne, von diesen war der Eine sehend, der Andere aber blind. Der Sehende musste immer den Blinden herumführen und auf ihn Achtgeben; aber nach und nach wurde er dieses Geschäftes müde und beschloss sich des Bruders zu entledigen.
Einmal befanden sich die zwei Knaben am Rande eines grossen Waldes. Da kam dem Sehenden der böse Gedanke: "Wie wär' es, wenn ich den Blinden in den Wald führte und ihn dort allein liesse?" Sein Gewissen wollte freilich nicht zustimmen, aber er war der langen Führerschaft zu müde und sein Leichtsinn war zu gross. Er führte also den Blinden tief in den Wald hinein, hiess ihn dort sich niedersetzen und sagte: "Wart' ein wenig, ich komme gleich wieder." Dann schlich er sich davon und sann auf eine Lüge, die er der Mutter vorsagen wollte.
Der Blinde wartete, und wartete, schon brach die Nacht herein, aber sein Bruder kam nicht. Bitterlich weinend sass er da und als er aus dem Schwirren der Fledermäuse und dem Krächzen der Nachteulen merkte, es sei Nacht geworden, tappte er herum, bis er zu einem Baume kam. Er fasste die Aeste mit den Händen und kletterte hinauf, bis er zwischen dem Stamme und den Aesten ein bequemes Plätzchen fand, wo er die Nacht zubringen wollte. Aber es kam kein Schlaf in seine Augen.
Es war um Mitternacht, da hörte er ein Rauschen unter sich und darauf ein Flüstern weiblicher Stimmen, so dass er leicht merkte, dass es Hexen seien, welche unter dem Baume ihre nächtliche Zusammenkunft hielten. Die Eine erzählte dies, die andere jenes; endlich sagte die letzte: "Und ich habe heute zwei schöne Dinge gethan. Zuerst habe ich in der nächsten Stadt die Tochter des Königs behext, so dass sie ganz blind geworden ist und ihr Leben in trauriger Finsterniss zubringen muss. Dann wohnt in einer ändern Stadt ein gar reicher Herzog, der hat einen schönen Garten mit sieben Brunnen und jeder Brunnen hat sieben Röhren und ist vom prächtigsten Marmor. Ich hätte dem stolzen Herrn gern auch einen Sohn oder eine Tochter behext, aber er hat keine Kinder, dafür habe ich aber alles Wasser in seinen Brunnen versiegen gemacht und aus all' den sieben Mal sieben Röhren fliesst kein Tröpfchen Wasser mehr, so dass der Herzog gar traurig ist."
"Und gab' es denn da gar kein Mittel zu helfen?" fragte eine der Hexen.
"0 ja", erwiederte die andere. "Da ist unter einem Steine neben unsenn Baume ein Oel; wer es findet und sich damit die Augen reibt, wird nicht nur sehend, sondern er sieht alles besser als sonst das gesundeste Auge. Der wäre im Stande, im Garten des Herzogs auch die sieben Kräuter zu finden, mit denen man die Brunnenröhren einreiben muss, um das Wasser wieder fliessen zu machen."
Allmälig verstummten die Stimmen unter dem Baume, dem Knaben wurde es um die Augen heller und er wusste daraus, wie immer, dass der Tag angebrochen sei. Er hatte sich von den Reden der Hexen kein Wörtlein entgehen lassen und stieg nun vorsichtig nieder, bis er auf den Boden gelangte. Er tastete nun mit beiden Händen nach allen Richtungen und fand bald eine Steinplatte, welche er umlegte. Dann tauchte er die Finger in das Oel, welches darunter war, rieb sich damit die Augen und war sehend. Welche Freude! Wie närrisch sprang er hin und her, sah bald hinauf zum wunderschönen blauen Himmel, bald auf den Waldboden, auf dem zitternde Lichter hin und her zuckten. Er dachte an sein vergangenes Leben, aber auch an die Armuth seiner geliebten Mutter und da erinnerte er sich auch wieder an die blinde Königstochter und an den reichen Herzog mit seinen wasserlosen Marmorbrunnen. Er füllte daher noch ein Fläschchen mit dem Oel und machte sich auf, um aus dem Walde hinaus zu gelangen. Als er einem Bauer begegnete, welcher mit zwei Ochsen in den Wald fuhr, war er über den ihm neuen Anblick so erstaunt, dass er den Bauer vorüber fahren liess und dann noch eine Strecke weit zurücklief, um zu fragen, wo denn der Weg zur Stadt gehe.
Als er in der Stadt war, kaufte er einige alte Bücher und eine Brille, nahm die Bücher unter den Arm, setzte die Brille auf die Nase und ging gemessenen Schrittes in das königliche Schloss. Als die Diener ihn kommen sahen, da fragten sie nicht lange, sondern dachten sich gleich, das müsse ein zwar noch junger aber schon grundgelehrter Doktor sein und meldeten es augenblicklich dem Könige. Dieser liess den Doctor sogleich vor sich kommen und obwohl er sah, dass derselbe noch eher einem Knaben als einem Manne gleich sei, fasste er doch kein Misstrauen und versprach ihm, er werde ihm, wenn er seine Tochter heile, Geld gehen, so viel er wolle, ja, die Prinzessin selbst solle, wenn er ihr gefalle, seine Frau werden.
Der junge Doktor machte wenig Umstände und liess sich in das Zimmer führen, wo die blinde Prinzessin gar traurig da sass. Nun schaute er, obwohl er nicht lesen konnte, in seine Bücher und befahl allen auf einen Augenblick das Zimmer zu verlassen; dann nahm er das Oel heraus und rieb der Blinden damit die Augen. Kaum waren der König und die Königin wieder in's Zimmer getreten, kam ihnen die Prinzessin fröhlich entgegen, begrüsste lächelnd ihre Aeltern [Eltern] und erklärte, dass sie wieder alles und noch besser als zuvor sehe.
Die Freude des Königs kannte keine Gränzen; er liess ein Gastmahl nach dem andern halten und endlich auch die Verlobung des jungen Doktors mit der Prinzessin feiern. Derselbe aber erklärte, vor der Hochzeit noch einige Kuren machen zu wollen, kleidete sich wieder als Doktor und ging zu Fusse in die Stadt, wo der reiche Herzog wohnte. Die Wunderkräuter in seinem Garten fand er leicht und machte jeden Tag nur an Einern Brunnen seine Kur, bis endlich am siebenten Tage aus all den sieben Mal sieben Röhren noch reichlicheres und frischeres Wasser sprudelte als zuvor. Der Herzog war überselig und gab dem Doktor Geld wie Spreu und ausserdem Kleider und wunderschöne Wagen und Pferde.
Damit fuhr der glückliche ehemalige Blinde seiner Heimat zu. Er fand seine Mutter im tiefsten Elend und schwach und krank; aber der Anblick von soviel Glück und die schönen Kleider, welche der Sohn ihr anzog, machten sie bald wieder gesund und fröhlich. Auch dem bösen Bruder wurde nach einer scharfen Strafrede verziehen und alle drei fuhren sie in die Stadt, wo die Hochzeit alsbald stattfand und ein Paar vereinigte, wie es auf Erden nur selten je noch ein glücklicheres, nie aber ein besser und schärfer sehendes gegeben hat. Sie lebten auch in bester Eintracht, denn sie sahen an sich gegenseitig nur Tugend und Liebe und wo sich etwa ein Fehlerchen einschleichen wollte, bemerkten es ihre scharfen Augen sogleich und es wurde beseitigt. Und als er mit der Zeit auch König wurde, hörten in seinem Reiche alle frühern Misstände auf; da durfte es kein schlauer Spitzbube wagen, sich dem scharfsehenden Könige als Diener oder Rathgeber anzubieten. Der Gerechtigkeit nahm der König auch ihre Binde von den Augen und sah doch oft noch besser als sie. Und die Unterthanen [Untertanen] bedauern es noch heute, dass selbiger König nicht mehr am Leben, sondern auch schon lange heimgegangen ist zu seinen Vätern.
Quelle: Märchen und Sagen aus Wälschtirol,
Ein Beitrag zur deutschen Sagenkunde, gesammelt von Christian Schneller,
Innsbruck 1867, Nr. 11, Seite 17
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Helene Wallner, 2007.
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