Das Märchen von der Schlange (La fiaba del biss)
Ein armer aber guter und arbeitsamer Mann hatte drei Töchter. Er ging oft in den Wald hinaus, um Holz zu holen, am Rande des Waldes aber pflegte er jedesmal seine Bürde auf eine niedere Mauer zu stellen und auszuruhen. Als er einmal nach Hause kam, hatte er seinen Hut vergessen und sagte zur ältesten Tochter: "Geh hinaus zu der kleinen Mauer, dort muss mein Hut liegen, bring' ihn mir." Sie ging und sah den Hut auf der Mauer liegen; als sie aber hinzu kam, lag eine grosse zusammengeringelte Schlange darin. "Geh weg, Schlange und lass mir den Hut!" sagte sie. "Wenn du mich küssest", erwiederte dieselbe. "Ich dich küssen, du abscheuliches Thier [Tier] ", sagte das Mädchen, "das thu' ich nun und nimmermehr." Sie liess den Hut liegen, ging heim und erzählte es dem Vater und den Schwestern. Darauf ging die zweite Tochter hinaus, aber auch diese getraute sich nicht die Schlange zu küssen und kam mit leeren Händen heim. Da sagte die jüngste: "Den Hut will ich schon holen." Sie ging und als die Schlange auch von ihr den Kuss verlangte, trat sie zwar anfangs ein wenig zurück, sogleich aber fasste sie sich ein Herz und küsste die Schlange. Da sagte diese: "Weil du mich geküsst hast, so musst du mit mir in mein Haus kommen, da soll es dir wol ergehen und du brauchst nichts zu fürchten." Das Mädchen erwiederte: "Erst muss ich dem Vater den Hut bringen, denn ich hab' es ihm versprochen." "Thue das nur", sagte die Schlange, "dann aber komm sogleich, sonst will ich dich auf eine Weise holen, die dich nicht freuen wird." "Sei nur unbesorgt", sagte das Mädchen, "ich komme bald wieder."
Sie brachte dem Vater den Hut und erzählte, was die Schlange ihr befohlen habe. Ihre Schwestern wollten sie zurückhalten, sie aber sagte: "Wer weiss, wozu mir's gut ist", nahm Kleider, Rocken und Spindel und kehrte zur Schlange zurück. Diese führte sie in ihr Haus im Walde und zwar gerade in die Küche; dort sagte der Wurm: "Nun bleib du hier, halt Haus und wirthschafte, wie du willst, an Essen und Trinken fehlt es dir bei mir nicht. Ich aber geh' in den Kamin; so oft du es nöthig [nötig] hast, rufe mich." Nach diesen Worten kroch der Wurm in den Kamin hinauf und liess das Mädchen allein.
Sie hatte nun ein gemächliches aber einsames Leben. Um sich die Zeit zu vertreiben, sezte sie sich mit ihrem Rocken an das offene Fenster, spann und blickte dabei oft in den stillen grünen Wald hinaus. Da ging eines Tages ein junger vornehmer und reicher Herr vorüber — ich glaube es war wol gar ein Graf—, der sah das schöne Mädchen am Fenster lange mit innigem Wolgefallen an. Am folgenden Tag kam er wieder und betrachtete sie noch länger und sie gefiel ihm so, dass er beschloss sie zu heiraten. Er ging zu ihr hin, redete gar freundlich mit ihr und fragte endlich, ob sie ihn heiraten wolle. Sie sagte nicht ja und nicht nein, sondern nur: "Kommt morgen wieder, so will ich Euch Antwort geben." Der Herr ging fort, sie aber trat zum Herde und rief in den Kamin hinauf: "Liebe Schlange, hörst du?" Da erwiederte der Wurm: "Ich bin schon hier, sprich, was willst du?" Und sie sprach: "Da ist heute ein junger Herr vorübergegangen und hat mich zur Frau begehrt. Morgen will er wieder kommen und ich soll ihm Antwort geben; sprich, was soll ich thun?" "Nimm ihn", sagte die Schlange, "und geh morgen mit ihm in sein Haus; sieh aber wohl zu, dqss du hier nichts vergissest, sonst wird es dir schlecht ergehen."
Sie dankte und suchte sorgfältig alle ihre Sachen zusammen — aber etwas vergass sie in ihrer Freude doch und das war ihr Rocken, der in einem Winkel liegen blieb. Am nächsten Tage kam der Graf und führte sie in seinen Palast; da aber verwandelte sich ihr Gesicht plötzlich in einen Ziegenkopf. Sie hatte darüber grosses Herzeleid und ihr Bräutigam noch mehr; aber die Hochzeit wurde dennoch gehalten. Sie hatte zwar die kostbarsten Kleider an und suchte den Kopf mit Perlenschnüren und Bändern zu bedecken, so gut sie konnte; allein die Gäste lachten doch heimlich und dachten sich: "Ei, warum hat denn der junge Graf eine solche Braut genommen? Sie hat ja einen wahren Ziegenkopf!" Aber laut getrauten sie sich doch nicht so zu reden und das Hochzeitsmal ging ohne Störung vorüber.
Nach der Hochzeit besichtigte und ordnete die junge Braut alle Gemächer des Hauses und kam dabei auch in die Spinnstube der Mägde. Da erst erinnerte sie sich an ihren Rocken und wie sie denselben im Hause der Schlange vergessen habe. Sogleich eilte sie hinaus und holte denselben. "Hab’ ich dir's nicht gesagt", rief der Wurm, als sie kam, "es werde dir schlecht ergehen, wenn du etwas vergissest?" Sie dankte ihm nochmals und eilte nach Hause. Da hatte sie wieder ihr rechtes Gesicht und der junge Graf hatte seine Freude an seiner schönen Frau und hielt sie zeitlebens in grossen Ehren. Selbige Gäste aber, die sich bei der Hochzeitstafel so schlimmes gedacht hatten, konnten sich nicht erklären, mit welchen Augen sie damals die Braut angesehen hätten und der Eine oder der Andere meinte wol im Stillen, sagte es aber nicht laut, dass der gute Wein der hochzeitlichen Tafel an solchem falschem Gesichte Schuld gewesen sei.
Quelle: Märchen und Sagen aus Wälschtirol,
Ein Beitrag zur deutschen Sagenkunde, gesammelt von Christian Schneller,
Innsbruck 1867, Nr. 40, Seite 117
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Helene Wallner, 2007.
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