DER GEIST BEIM GRENZSTEIN

Es lebte einmal ein Bauer, der war der wohlhabendste Mann im Dorf, zugleich aber so habgierig, daß er Tag und Nacht darüber nachdachte, wie er noch reicher werden könnte. Obwohl er das beste Vieh besaß und seine Felder die größten und fruchtbarsten waren, mißgönnte er doch seinen Nachbarn das kleinste Stückchen Acker.

Oft lag er ohne Schlaf in seinem Bett und grübelte. Da kam er eines Nachts auf den Gedanken, daß er ja den Grenzstein, der seine Felder beschränkte, ausgraben und ein wenig ins Feld des Nachbarn rücken könnte. "Das merkt kein Mensch", dachte er, "und ich bin ohne Mühe reicher als bisher."

Um Mitternacht stand er auf, schlich zum Grenzstein und fing an, ihn auszugraben. Da stand aber plötzlich ein weißes Hündchen davor, das wollte es nicht leiden und bellte immerzu:

"Wau, wau, wau!
Nicht dich trau!
Auf Gott schau!"

Allein der Geizhals sah und hörte nichts in seinem Eifer. Er grub und grub und murmelte dabei:

"Wo leg ich ihn hin
mir zum Gewinn?"

Endlich hatte er den Stein ausgegraben und in das Feld des Nachbarn hineingerückt. Nun war sein eigenes Feld um einen Streifen größer geworden, und der Bauer ging befriedigt schlafen.

Aber es dauerte nicht lange, da begann es ihn zu wurmen, daß dem Nachbarn noch immer ein schönes Stück Ackerland geblieben war. Er fand keine Ruhe, bis er eines Nachts um die zwölfte Stunde wieder aus seinem Bett kroch und hinausschlich. Als er anfing, den Grenzstein auszugraben, stand diesmal ein grauer Hund davor, der wollte es nicht leiden und bellte den Geizhals heiser an:

"Wau, wau, wau!
Nicht dich trau!
Ich dich hau!"

Der Bauer aber achtete nicht auf ihn und grub, so schnell er nur graben konnte. Und dabei brummte er:

"Wo leg ich ihn hin
mir zum Gewinn?"

Endlich hatte er den Stein herausgehoben und rollte ihn weit ins Nachbarfeld hinein. Dann schlich er wieder in sein Haus zurück und rieb sich vergnügt die Hände.

Seine Freude währte aber nicht lange. Bald schien es ihm, daß der Nachbar doch noch zuviel behalten hätte, und wieder stand er um Mitternacht auf und ging hinaus, um den Grenzstein auszugraben. Diesmal stand dort ein riesiger schwarzer Fleischerhund, der bellte wütend:

"Wau, wau, wau!
Nicht dich trau!
Ich dich sonst zerhau!"

Der geizige Mann aber war wie von Sinnen in seiner Habgier und achtete nur auf den Stein. Hastig grub er ihn aus, rückte ihn tief in das Feld des Nachbarn hinein und richtete sich kichernd auf. Da sprang der Hund auf ihn los und zerriß ihn mit seinen furchtbaren Zähnen.
Noch lange nachher wollten Vorübergehende oft um Mitternacht einen Schatten an jenem Ort wandeln gesehen haben, der stöhnend einen Grenzstein hin und her schleppte und laut seufzte:

"Wo leg ich ihn hin?
Wo leg ich ihn hin?"

Einmal ging auch ein Handwerksbursch vorbei, der ein wenig zu tief ins Glas geguckt Hatte. Als er den Geist so stöhnen und fragen hörte, rief er lachend:

"Leg ihn halt dorthin, woher du ihn genommen hast!"

Da schleppte das Gespenst den Stein an die Stelle, wo er ursprünglich gelegen war, und rief laut: "Hab Dank!"

Dann verschwand der Geist des geizigen Bauern für immer. Der Zuruf des Burschen hatte ihn vom Fluch erlöst.

Quelle: Österreichische Volksmärchen, gesammelt von Josef Pöttinger, Wien 1957