Das ewige Lied
Der junge Martin lehnte an der offenen Türe seines Vaterhauses. Es war ein altes, stolzes Bauernhaus. Ringsum lagen die Felder, die Wiesen, der Wald und alles gehörte dem Vater und einst ihm.
„Wie schön ist das.“ Dachte Martin. „Nichts wollte ich lieber sein als Bauer.“ Indessen war der Mond gekommen und lugte als großer, roter Ball über den Wald. Der alte Hollunderbusch schmiegte sich enger an die Hausmauer und ein Vogel begann darin zu singen. Martin stand und lauschte. Es wurde ihm so eigen ums Herz, er wusste nicht, was es wäre. Er konnte nicht denken und nicht wollen, er vergaß Felder und Wiesen, den Wald und das Haus, er wusste nur noch, dass er fort musste, wenn ihm das Herz nicht zerspringen sollte.
So ging er denn durch den Garten und über den Steg, über die Wiese und durch den Wald, ging die ganze Nacht über fremde Straßen, an Dörfern vorbei und an Städten und stand am Morgen vor einer hohen Burg.
„Was suchst du hier?“ fragte der Torwächter. „Ich weiß es nicht.“ Sagte der Knabe. „Ho, ho, ho!“ lachte der Wächter. „Du bist mir der Rechte. Nun, wenn du es nicht weißt, dann kannst du mir meine Stiefel putzen.“ Das tat Martin. Er putzt die Stiefel, er kehrte das Torstüblein, er trug Wasser, ließ die Zugbrücke nieder und zog sie wieder auf. Dabei sah ihn der Burgherr.
„Was für einen hübschen, starken Jungen hast du da?“ fragte er den Torwart. „Martin heißt er.“ Meinte der.
„Mehr weiß ich nicht!“.
„Er gefällt mir, er soll mein Knappe sein.“ Sagte der Graf und so geschah es. Martin putzte dem Grafen die Waffen, und trug ihm den Schild, er lernte reiten und schwimmen und springen, er schoss mit der Armbrust und focht mit dem Schwerte, er wurde groß und stark und hatte ein kühnes, stolzes Gesicht. Dabei war er klug und zu allem zu gebrauchen. Er gefiel dem Grafen so gut, dass er ihm seine Tochter zur Frau gab.
Es war seine einzige Tochter und darum war die Hochzeit das schönste Fest seit hundert Jahren. Alles Gemäuer war mit Blumengewinden geschmückt, von weit her waren Sänger und Spielleute gekommen, die Sonne glänzte in blankgefegtem Harnischen und streichelte alle Rosenkränzlein, die die Damen in den Haaren trugen.
Das schönste trug des Grafen Töchterlein. Sie stand mit ihrem Martin unter dem purpurnem Baldachin auf dem Altar und schaute auf das jubelnde Volk. Ein Windstoß zog an ihrem Schleier, bließ in das Kränzel, dass die Rosenblätter davonflogen und trug ein paar Töne eines Liedes herauf, das da unten eine Mädchenstimme sang.
„Komm!“ sagte die Braut. „Der Wind ist ungut!“ – „Warte!“ bat Matin und stand und horchte. Was war das? Das Lied kannte er. Das hatte er schon einmal gehört. Er stand und horchte und fühlte nicht, dass die kleine Hand in der seinen ungeduldig zuckte. Er stand und horchte, bis das Grafenkind mit dem Fuße stampfte und weglief.
„Höre allein dein dummes Lied!“ rief sie. „Und komm, wenn du ausgeträumt hast!“. Aber Martin träumte weiter und träumend ging er durch die Gänge und über die Stiegen, ging über den Burghof und durch das Tor. Wäre ihm sein treuer Schimmel nicht nachgekommen, er wäre weiter gegangen, ohne zu wissen, wohin ihn seine Füße trugen.
Nun saß er auf und ritt, wohin das Ross ging. Er saß still, wenn der Schimmel ein paar Gräser zupfte und ließ den Wind durch seine Haare blasen, wenn das Pferd trabte. Er wäre geritten bis an das Ende der Welt, wenn nicht… „Halt!“ schrie eine grobe Stimme. „Was haben wir denn da für einen freien Vogel?“. Zwei gekreuzte Lanzen sperrten Martins Weg. Es waren Vorposten des Heerhaufens, der mit dem König gegen Welschland zog. „Wer bist du, was willst du, wie heißt du, wohin führt dein Weg?“. Sie hielten sein Ross am Zügel und zwangen ihn abzusteigen.
„Martin heiße ich.“ sagte er. „Sonst weiß ich nichts.“ Und dabei blieb er, auch nachdem der Hauptmann ihn gefragt hatte und endlich gar der Obrist selbst. Nur, als man wissen wollte, ob er beim Heere bliebe, um mitzukämpfen, sagte er: „Ja!“.
So blieb er dann, sprach wenig und kämpft tapfer, war überall vorne daran und wusste für alles Rat, wurde Hauptmann und Obrist und endlich Heerführer des Königs. Viele Schlachten hatte er geschlagen und viele Siege erfochten. Nun saß er in seinem Zelt und sann. Morgen sollten sich alle versammeln, ihn zu ehren; der König selbst hatte es befohlen und wollte ihm seinen höchsten Orden überreichen.
Es war später Abend und stille im Lager. Der Feldherr dachte zurück. Wie viele Jahre waren vergangen, seit er sein Vaterhaus verlassen und wie viel hatte er gesehen und erlebt. Seine Braut, des Grafen Tochter war sicher längst eines anderen Frau und das Lied hatte er seit damals nicht mehr gehört.
Wie ging es wohl? Er hatte es schon ganz vergessen. Er probierte: „la-la-tra-la-li“. Nein, so war es nicht. Vielleicht? Ja, so – so war es! Genau so!“ Ein Flöte sang schmeichelnd und zärtlich das Lied, hinauf und herunter, wie ein Fingerlein, dass die Wange streichelt, wie ein Lüftlein, dass den Brautschleier hebt.
Der Feldherr stand auf, er reckte sich. „Mein Ross!“ befahl er, saß auf und ritt aus dem Lager. Er ritt, die Flöte suchend. Lockend klang sie, bald ferner, bald nah, wie der Wind die Töne brachte, Martin ritt und horchte, ritt langsamer und horchte wieder, bis er an einer Waldlichtung stille stand.
Da brannte ein Feuer und rings im Feuerscheine saßen braune Männer und Weiber und hörten das Lied, das der eine spielte, der dort am Baume lehnte. Es waren Zigeuner, die in ihrem Wagen durch die Länder fuhren. Martin fuhr mit, er fuhr mit ihnen von Land zu Land, bettelte mit ihnen und stahl mit ihnen, aß, wenn sie etwas zu essen hatten, und hungerte, wenn es nichts gab. Er hörte den Flötenspieler noch oft, aber es war nicht das gleiche Lied, es war ähnlich und es war ganz schön, aber es war nicht dasselbe. Zwar sagte alle und auch der Spieler versicherte, es sei genau das gleiche Lied, aber Martin wusste es besser und hielt sich die Ohren zu und vergrub den Kopf in die Decken, wenn der Zigeuner spielte.
Er lachte nicht mehr und sprach nicht und die Zigeuner zogen eines nachts ohne ihn weiter und ließen ihn allein im Walde zurück. Es waren viele Jahre seit seiner Jugend vergangen. Er war alt geworden und hatte graue Haare. Er zogt als Bettler durch das Land und dachte nicht mehr an das Lied.
Bis er nach vielen Wegen in eine Gegend kam, die ihm bekannt schien. Die Bäume waren wie alte Bekannte, die Wiese schien ihm so vertraut. War das nicht der Steg über den Bach und der Nussbaum vor dem Hause des Vaters? Und der Hollunderbusch war da und der Vogel und ja richtig. Das war das Lied, das er so lange nicht gehört hatte! Der Vogel sang es so unirdisch schön, so himmlisch beglückend, dass dem Bettler die Augen nass wurden.
Quelle: Friedrich Neisser, Märchen aus Enzenkirchen. Neu herausgegeben von Roger Michael Allmannsberger.
Von Roger Michael Allmannsberger freundlicherweise im Juli 2007 für SAGEN.at zur Verfügung gestellt.
© Roger Michael Allmannsberger