DER GERADE WEG
Es war einmal ein Junge, der lebte bei seiner Großmutter. Sie hielt ihn recht gut und hatte ihre helle Freude an ihm.
Plötzlich aber fiel ihm ein, zu seiner Mutter heimzugehen. Da wurde die alte Frau traurig und redete ihm zu, er möge doch bleiben, sie wäre sonst ganz allein. Ihre Worte rührten den Jungen. Er warf sein Bündel, das er schon geschnürt und auf den Rücken genommen hatte, wieder ab und blieb.
Jedoch nach kurzer Zeit packte ihn abermals das Heimweh, und nun konnte ihn die Großmutter nicht mehr zurückhalten. Sie gab ihm einen Apfel und ein doppeltes Butterbrot mit auf die Reise und sagte: "Geh immer den geraden Weg und nie seitab! Dann wirst du sicher heimfinden!"
Der Junge nahm Abschied von ihr und zog den geraden Weg fort, wenn ihm auch der Wind eiskalt ins Gesicht blies und er kaum sehen konnte. Er wich nie ab, bis er zu einem Häuschen kam, das quer über dem Weg stand. Nun wußte er nicht, was er tun sollte, er durfte ja weder nach links noch nach rechts abbiegen. Zum Glück führte der gerade Weg auf die Tür des Häuschens zu. Sie war offen, und der Junge trat ein.
Drinnen beim Ofen saßen drei alte Frauen vor ihren Spinnrädern
und spannen. Als sie den Jungen kommen hörten, rief die eine ihm
zu: "Ich habe keine Zeit, daß ich mir einheize. Ich muß
spinnen." Da säumte der Junge nicht lange, lief zum Ofen und
machte Feuer.
Kaum war dies geschehen, rief die zweite Frau: "Ich bin so durstig
und habe keine Zeit, mir Wasser vom Brunnen zu holen. Ich muß spinnen."
Da packte der Junge einen Krug und holte Wasser für die Alte herein.
Eine Weile später rief die dritte Frau: "Ich bin so hungrig und habe nichts zu essen. Ich muß spinnen." Jetzt nahm der Junge sein doppeltes Butterbrot aus dem Bündel, zerschnitt es in vier Teile, und nun aßen sie gemeinsam und tranken Wasser dazu, während das Feuer im Ofen prasselte.
Dann legten die Frauen drei Dinge auf den Tisch: einen Fingerhut, eine Marmorkugel und einen Fingerring.
Und eine der Frauen sprach: "Du darfst dir eins von den drei Dingen als Geschenk auswählen."
Der Junge wählte den Fingerring, steckte ihn an und nahm Abschied von den drei Frauen. Durch die hintere Tür gelangte er ins Freie und ging wieder geradeaus über einen Steig, der durch den lichten Wald zu einer Kapelle führte. Davor saß ein Bettler. Zu seinen Füßen hüpften ein paar Spatzen umher und piepsten um Futter. Da streute ihnen der Junge die letzten Brotbrösel hin und schenkte dem Bettler den Apfel. Der gab ihm ein "Vergelt's Gott" dafür und sagte dann: "Ich weiß, daß du heimgehen willst. Geh nur immer den geraden Weg und weiche weder rechts noch links davon ab, so wirst du auf einen Berg kommen. Dort findest du ein Schwert, das im Waldboden steckt. Mit diesem Schwert mußt du dir dein Glück erkämpfen!"
Der Junge schritt weiter, immer geradeaus, und bald kam er zu einem großen Haus, das jedoch abseits stand und seinen geraden Weg nicht hemmte. Hierauf kam er zu einem Garten, in dem rote Äpfel und gelbe Birnen an den Bäumen hingen und ihn verlockend einluden. Jedoch er wich keinen Schritt seitab, um sich diese köstlichen Früchte zu nehmen. Er zog geradeaus weiter und gelangte an einen tiefen Fluß, der seinen Weg just überquerte. Weder Brücke noch Steg waren zu sehen, nur links und rechts führten seichte Furten hinüber. Plötzlich flogen Spatzen herzu und trippelten über die Steine, die aus dem Wasser ragten, ans andere Ufer.
"Ei, die tragen mich wohl auch!" rief der Junge und kam richtig geradenwegs über den Fluß.
Auf einmal stand er vor dem hohen Berg, den er nun erklimmen mußte. Doch der gerade Weg war steinig und sehr schwer zu finden. Da schwirrten plötzlich Krähen herbei, flogen vor ihm her und zeigten ihm genau die Richtung, die er einzuschlagen hatte. So erreichte er glücklich die Höhle und fand bei einem Baumstrunk das große Schwert, das zur Hälfte in der Erde stak. Der Junge stieß vor Freude einen Schrei aus.
Weil er aber todmüde war, legte er sich zur Ruhe nieder und schlief ein. Auch die Krähen, die ihm den Weg gezeigt hatten, ließen sich nieder und saßen im Kreis um ihn herum.
Am nächsten Tag stand der Junge gekräftigt auf, nahm sein Schwert und stieg den Berg auf der anderen Seite hinab. Nach einer Weile kam er zu einer Höhle, in der ein greulicher Drache schlief. Plötzlich hörte er den Ruf: "Mein Retter kommt!"
Da sah er auch schon eine bildschöne Jungfrau im dämmrigen Hintergrund der Höhle stehen. Es war eine Königstochter, die von dem Drachen gefangengehalten wurde.
Die Stimme der Prinzessin aber hatte den Drachen geweckt, er bäumte sich hoch auf und schnappte nach dem Jungen. Der war nicht faul, ergriff das Schwert mit Macht und stieß es dem Untier so tief in den Leib, daß es zusammenbrach und in kurzer Zeit verendete. Mit dem letzten Atem brüllte es noch: "Du bist in deiner Barmherzigkeit der Stärkere!"
Der Junge holte nun die schöne Jungfrau aus dem Felsenloch und geleitete sie in das Tal. Dort stand das prächtige Schloß, in dem der Vater der Prinzessin wohnte. Die beiden wurden mit Jubel begrüßt, und als der König von der Heldentat des Jünglings hörte, verlobte er ihn mit seiner Tochter. Das Brautpaar fuhr in einer herrlichen Kutsche zur Mutter des Jünglings und brachte sie ins Schloß.
Als der König starb, wurde der tapfere Held Herrscher im Lande,
und er lebte mit seiner bildschönen Frau noch viele, viele Jahre
in Freude und Glück.
Quelle: Österreichische Volksmärchen, gesammelt von Josef Pöttinger, Wien 1957