DER ARME SCHUSTER
Ein Schuster war sehr arm, er hatte acht Kinder, und die Frau war ihm gestorben. Er hatte sehr schlimme Tage und wenig Verdienst, und die armen Würmchen wollten doch ihr Brot haben und schrien oft vor Hunger. So ging es lange Zeit, und der arme Schuster versetzte seinen letzten Leisten, um den Hunger der Kinder zu stillen. Doch als der nächste Tag anbrach, stellte sich auch der Hunger wieder ein, und die Kinder weinten, und der Schuster wußte sich nicht zu helfen. Endlich fiel ihm ein Ausweg ein. Er ging zu seinem Nachbarn, der sehr reich, dabei aber auch sehr geizig war, und bat ihn, er möchte ihm doch einige Kreuzer leihen, damit er seinen Kindern Brot kaufen könnte, denn sonst müßten sie Hungers sterben. Der geizige Mann aber schnauzte den Armen an und schrie: "Wenn deine Kinder verhungern, was geht das mich an? - Ich gebe dir keinen gespaltenen Heller, geschweige einen ganzen. Ich bin nicht der Narr, der das Geld hinauswirft ohne Hoffnung, es je wieder zu bekommen."
Der arme Schuster sah nun, daß sein Bitten umsonst sei, und ging ohne Geld und ohne Trost vorn reichen Nachbarn weg zu seinen hungernden Kindern. Diese meinten, der Vater würde mit Brot kommen, und warteten mit größter Sehnsucht auf ihn. Der Vater kam, und als er die armen hungernden Kindlein sah, ging es ihm arg ans Herz, und er fing auch zu weinen an. Die Kinder, wie sie dies sahen, weinten noch mehr und wurden immer trostloser und trauriger. So ging es zwei Tage, daß sie einander ansahen und weinten, und der Hunger wurde immer größer und größer. Da dachte sich der arme Schuster: Ich will es noch einmal probieren und zum Nachbarn gehen und ihn um etwas bitten; vielleicht erweichen Gott und meine Tränen sein hartes Herz. Der Schuster begab sich nun zum Nachbarn und weinte und bat ihn auf den Knien recht inständig um etwas. "Ja", erwiderte der geizige Nachbar, "einen Strick will ich dir geben, damit du deinem elenden Leben ein Ende machen kannst", und gab ihm einen Strick. Der arme Schuster nahm den Strick und dachte an seine bereits verhungerten Kinder und an die noch lebenden, zu denen er aber ohne Brot nimmer zurückkehren mochte, und beschloß, wenn der himmlische Vater keine Hilfe senden würde, sich aufzuhängen.
Er ging nun in den Wald hinaus und ging recht tief in denselben hinein, damit kein Mensch ihn sehen möchte. Und als er im dichten Walde so dastand und sich aus Hunger aufhängen wollte, wurde es ihm .sp^schwer um das Herz, daß er von der Welt scheiden sollte, und er dachte: Bevor ich sterbe, will ich die schöne Welt doch noch anschauen. Er suchte nun einen recht hohen Baum und stieg bis zum Wipfel hinauf, und als er droben war, sah er recht weit herum, und da war es ihm noch schwerer, sich aufzuhängen.
Wie er nun so herumschaute, da erblickte er tiefer in dem Walde ein großes, großes Haus, das war so schön, daß er nie ein solches gesehen hatte. Er kletterte nun eilig wie ein Eichkätzchen vom Baume herunter, ließ den Strick liegen, wo er lag, und eilte dem schönen, großen Hause zu, um dort Hilfe und Trost zu suchen, denn zum Hängen, meinte er, sei es noch Zeit.
Als er zum Hause kam, fand er es offen. Er ging hinein und kam in einen weiten, lichten Saal, in dem viele, viele Tische standen, und alle waren gedeckt und mit den herrlichsten Speisen besetzt - aber keine Seele war im ganzen Gebäude zu finden. Das duftete, daß der arme Schuster glaubte, er sei bei der himmlischen Hochzeit. - Als sich lange Zeit niemand sehen ließ, setzte sich der hungrige Schuster endlich zu einer Tafel hin, kostete von jeder Speise und trank von jedem Weine. Er war schon fast satt, da hörte er plötzlich Stimmen, und es war, als ob Leute kommen würden. Der arme Schuster fürchtete sich und versteckte sich eilig im Ofenloch. Wie er dort horchte und zitterte, kamen zwölf Herren, setzten sich zu Tisch, und als sie sahen, daß alles angenascht war, murmelten sie: "Wer hat von meiner Suppe gegessen? Wer hat von meinem Fleisch gekostet? Wer hat von meinem Brot geschnitten? Wer hat von meinem Wein getrunken? Wer hat mit meinem Löffel geschöpft? Wer hat mit meinern Messer geschnitten?" So murmelten und murrten sie, bis der erste, der gekommen war, fragte, was es Neues gäbe. Da sagte der zweite, er wisse nichts, und so ging es der Reihe nach; alle bis auf den letzten wußten nichts. Als die Reihe zum letzten gekommen war, erzählte er, in der Königsstadt liege die Königstochter schwer krank und leide am rechten Fuß fürchterliche Schmerzen. Kein Doktor könne ihr helfen, und die schöne Prinzeß sei ohne Rettung verloren, wenn nicht bald geholfen würde.
"Und kann ihr niemand helfen? Und können wir ihr nicht helfen?"
fragten alle auf einmal. Da antwortete der letzte: "Ich wüßte
schon ein Mittel. Es braucht nur jemand zum weißen Felsen hingehen.
Um Mitternacht bewegt sich dort der große Stein, und ein gräßlicher
Wurm kommt zürn Vorschein. Diesen muß man erschlagen, ihm das
Fett nehmen, damit den rechten Fuß der Königstochter einschmieren,
und sie wird in acht Tagen ganz gesund sein."
Als die zwölf Herren dieses gehört und dann gegessen hatten, standen sie von ihren Sitzen auf und gingen wieder weg. Der arme Schuster war darüber froh, schlüpfte aus dem finstern Ofenloch hervor, stillte vollends seinen Hunger und ging dann fort, denn er wollte die schöne Königstochter heilen und sich auf diese Weise Gold verschaffen. Kaum war er einige Schritte gegangen, kam er zu einer schönen Straße, und diese führte schnurgerade zur Königsstadt und zur prächtigen Königsburg. Er ging gerade auf die Burg zu und zum König und sagte zu diesem, er wolle seine Tochter heilen, wenn er ihm sechs starke Männer mitgeben würde. Die Prinzeß hatte gerade so große Schmerzen, daß sie laut aufschrie; da war der König gleich bereit und ließ sechs baumstarke Männer holen, und die übergab er dem armen Schuster. Der Schuster ging nun wieder in den Wald hinaus und zum weißen Felsen hin und wartete dort mit seinen sechs Gesellen bis Mitternacht. Als es Mitternacht war, bewegte sich wirklich der Stein, und ein fürchterlich großer Wurm kam hervor. Da stürzte sich der Schuster mit den sechs starken Männern auf das Untier, und alle sieben schlugen so lange mit Keulen und Äxten darauf, bis es maustot war. Der Schuster nahm nun das Fett aus dem Leib des Wurms, ging zum König zurück und beschmierte den rechten Fuß der Prinzeß. Diese ward besser und besser, und in acht Tagen war sie wieder frisch und gesund und sah aus, weiß und rot, wie ein Apfel. - Der alte König war sehr erfreut, umarmte den armen Schuster und führte ihn in die Schatzkammer. Der Schuster war über die Pracht und Herrlichkeit der Schätze außer sich, und als er so staunte und schaute, sagte der König: "Nimm soviel Gold, wie du willst!"
Der Schuster ließ sich das nicht zweimal sagen und steckte sich alle Taschen voll Gold, so daß er nicht mehr tragen konnte, und dankte dem König dafür. Dieser war aber damit noch nicht zufrieden, denn der Schuster hatte zuwenig genommen, und er gab ihm noch einen so großen Sack voll Gold, daß der Schuster einen Esel leihen mußte, um das viele Gold nach Hause zu bringen.
Als er mit dem Schatz nach Hause kam, fand er die Kinder noch am Leben, denn sie hatten indessen etwas zu essen bekommt men. Die waren heilfroh, ihren Vater wiederzuhaben, und lebten mit ihm, der nun ein steinreicher Mann war, vergnügt und glücklich viele Jahre hindurch, und von einer Not war keine Rede mehr.
Als der geizige Nachbar sah, wie der arme Schuster mit seinen noch lebenden Kindern gut aß und trank und glücklich lebte, wunderte er sich und wollte wissen, wie es zugegangen sei. Er ging deshalb zum Schuster hin und fragte ihn, wie es denn gekommen wäre, daß er nun so gut fortkomme. Der Schuster machte kein Hehl und erzählte dem Geizigen aufrichtig, wie es ihm ergangen war. - Da dachte sich der Geizige: "Ich muß es auch so machen", ging in den Wald hinaus, stieg auf den Baum, sah in die Weite, sah das schöne, große Haus und stieg wieder herunter. Er eilte nun der Gegend zu, wo das Haus stand, ging hinein, fand die Tische gedeckt, aß von den Speisen und versteckte sich schließlich, als er jemanden kommen hörte, im Ofenloch. Die zwölf Herren kamen wieder, und es ging wie beim ersten Mal zu, und der letzte erzählte wieder folgende Geschichte: "Es war einmal ein armer Mann hier, den die bitterste Not hierher getrieben hatte und den wir glücklich gemacht haben; heute aber steckt ein reicher, reicher Mann im Ofenloch, den nur der Geiz und die Habsucht herbeigeführt haben, und auf diesen dürfen wir alle losschlagen." - Nach dieser Rede fuhren alle zwölf sogleich von ihren Sitzen auf, stürzten auf das Ofenloch zu und stachen und stachen in dasselbe hinein, bis der Geizige erstochen und maustot war.
Quelle: Kinder- und Hausmärchen aus Tirol.
Gesammelt durch die Brüder Ignaz Vinc. und Josef Zingerle, herausgegeben
von Ignaz Vinc. von Zingerle. Innsbruck 1911