Das Berggeistl
Es war einmal ein blutarmes Weib, das lag sterbenskrank und hatte weder
einen Bissen Brot noch einen roten Pfennig zu Hause. Da sprach es zu seinem
einzigen Kind, das ein gar braves, frommes Mädchen war: "Geh
in den Wald, Moidele, und suche Beeren! Die kannst du dann in die Stadt
tragen und dort verkaufen."
Das Mädchen nahm sein Weidenkörbchen, ging in den Wald hinein
und kam immer weiter und weiter im dunklen Forst, bis es endlich Schwarzbeeren
in Unzahl fand. Es sammelte nun dieselben ins Körbchen, gab auf nichts
anderes acht und wurde des Pflückens gar nicht müde. Dabei dachte
es sich: Wenn ich das Körbchen gehäuft voll habe, kann ich zwei
Sechser bekommen und der Mutter auch etwas Besseres als nur Brot kaufen.
Indessen war der Tag sehr vorgerückt, und der Abend dämmerte
schon hinter den Bergen herauf. Da stand auch das Mädchen auf, sah
seelenvergnügt aufs volle Körbchen und wollte heimgehen.
Es machte sich nun auf den Weg, doch bald war der Steig verschwunden,
und es wußte nicht wohin und wo aus. Es lief nun über Stock
und Stein, durch dick und dünn, doch je weiter es ging, desto dichter
wurden die Bäume und desto mehr begann es zu dunkeln. Da wurde es
dem Kind gar unheimlich zumute, es stand still und weinte bitterlich.
Dann faßte es sich wieder und ging vorwärts, doch an ein Herausfinden
aus dem Wald war nicht zu denken. Wie das Moidele schon jede Hoffnung
aufgab, nach Hause zu kommen, trappelte es plötzlich durch die Bäume
daher, und ehe sie es meinte, stand ein kleines, kleines Männchen,
das in grauen Baumbart gekleidet war, vor ihm.
Es war das Berggeistl. Als es sah, daß das Mädchen weine, redete
es das Mädchen gar freundlich an und fragte: "Was fehlt denn
dir, daß du weinst?"
"Ach", sagte schluchzend das Moidele, "ich habe Schwarzbeeren
gesucht, um dafür Brot und Fleisch für die kranke Mutter zu
kaufen, und jetzt find' ich nicht mehr aus dem Wald, muß hier übernachten,
und die kranke Mutter ist ganz allein."
"Wenn nur das fehlt", erwiderte das Männchen, "so
ist dir leicht zu helfen. Warte, ich werde dich gleich aus dem Wald führen,
folge mir nur!"
Mit diesen Worten ging das Berggeistl voraus, und wo es hintrat, war guter
Weg. Das Mädchen folgte, obwohl es hundemüde war, und bald wurde
der Wald lichter und lichter, bis sie im Freien standen. Dem Moidele klopfte
nun das Herz vor Freude, und es dankte dem kleinen Männchen gar herzlich.
"Deine Mutter ist krank", sprach da das Berggeistl. "Weil
du so brav bist, soll ihr geholfen werden." Dann bückte es sich
und pflückte einige Kräuter, die es dem Kind gab. "Siede
sie heute noch und gib das Wasser davon deiner Mutter zu trinken, und
sie wird alsogleich gesund werden." Das Berggeistl lächelte,
und im Nu war es verschwunden.
Moidele lief nun voll Freude heim und erzählte der Mutter, was ihm
im Wald begegnet war. Dann ging es in die rußige Küche, machte
Feuer an und sott die Kräuter. Als dies geschehen war, seihte sie
das Wasser davon ab und brachte es der Mutter. Diese trank es, und kaum
hatte sie den letzten Tropfen davon zu sich genommen, als sie sich ganz
gesund fühlte und aufstand.
Dies alles hatte der Bub des Nachbarn, der öfter in die Hütte
kam, gesehen und gehört, und er dachte sich: Warte, jetzt will ich
auch in den Wald hinausgehen und mir solche Wunderkräuter geben lassen.
Die will ich dann in der Stadt um teures Geld verkaufen und mir dafür
Zuckerfeigen und anderes anschaffen.
Gedacht, getan. Am anderen Tag ging der böse Bub in den Wald, aß
dort Heidelbeeren und als er deren satt war, drang er tiefer in den Wald
und fing endlich zu flennen und zu heulen an, daß die Bäume
widerhallten. Er hatte schon lang gelärmt, als das Berggeistl dahergegangen
kam und fragte: "Was machst du hier in meinem stillen Wald für
einen Lärm?"
"Weil ich nimmer heimfinde und meine kranke Mutter ganz allein ist."
Dabei weinte der Knabe, hob beide Hände auf und bat kniefällig,
ihn doch aus dem Wald zu führen.
"Wenn dir nichts anderes fehlt, so soll dir geholfen werden",
sprach das Berggeistl und ging voran. Der Knabe folgte ihm.
Da führte das Berggeistl den falschen Buben vier Stunden lang durch
den dichtesten Wald, bergab, bergauf, so daß er todmüde wurde
und seine Falschheit bitter bereute. Als der Knabe vor Müdigkeit
beinahe nicht mehr weiter kam, standen sie endlich am Saum des Waldes.
Da war der Knabe froh und wollte schon davonlaufen, als das Männlein
sprach: "Warte, ich muß dir auch ein heilsames Kräutlein
mitgeben."
Bei diesen Worten bückte sich das Berggeistl und rupfte einige Blätter
ab, die es dem Buben gab. Dann sprach es: "Siede sie dir und trink
vom heilsamen Wasser."
Kaum hatte der Knabe die Kräuter, so eilte er über Stock und
Stein nach Hause und tat nach den Worten des Berggeistls. Er ging in die
Küche, machte Feuer an und sott die Kräuter. Dann seihte er
das Wasser ab und trank es voll Gier. Doch siehe, kaum hatte er es getrunken,
als er für seine Falschheit bitter bestraft wurde. Er bekam Bauchweh,
daß er sich vor Schmerzen wie ein Wurm wand und bog. Das dauerte
einige Tage, und seitdem war er ein braver Bursche, denn das Kräutlein
hatte eine gar heilsame Wirkung getan.
(mündlich aus Zirl)
Quelle: Ignaz und Joseph Zingerle, Kinder- und Hausmärchen aus Süddeutschland, Regensburg 1854