Die Drude
Es war einmal ein steinreicher Herr, und dieser hatte eine absonderliche
Magd. Sie ging jede Nacht aus und kam oft erst am frühen Morgen zurück,
weil sie eine Drude war und einen großen Trieb in sich fühlte,
andere zu drücken. Um dies zu tun, schlich sie in dunkler Nacht in
die Schlafzimmer und drückte die Schläfer so, daß sie
nicht mehr imstande waren, sich zu bewegen.
Dies nächtliche Ausgehen blieb dem Herrn nicht lange geheim, er ließ
die Magd vor sich kommen und fragte sie, warum sie nachts immer fortgehe.
Sie solle es nur offen eingestehen, denn eine Lüge würde ihr
doch nichts nützen.
Da nahm sich die Magd kein Blatt vor den Mund, gestand alles offen ein
und sprach: "Haben Sie Erbarmen mit mir, gnädiger Herr! Ich
gehe nicht aus freier Wahl zur Nachtzeit aus, sondern weil ich muß.
Denn ich wurde in einer unglücklichen Stunde geboren und bin deshalb
eine Drude. Es drängt und treibt mich, etwas Lebendiges zu drücken,
und mir kann nicht geholfen werden, bevor ich nicht etwas Lebendiges totdrücken
darf."
Als der Herr dies hörte, hatte er Mitleid mit der aufrichtigen Magd
und sprach: "Wenn dir so geholfen werden kann, dann sei getrost.
Du sollst geheilt werden. Du kannst mein bestes Pferd, das ich im Stall
habe, erdrücken."
Die Magd war mit dieser Erlaubnis sehr zufrieden und dankte für die
Gnade. In der folgenden Nacht ging sie wirklich in den Stall und kam erst
morgens wieder zurück. Man fand das Pferd tot im Stall, sie aber
war von ihrem Drang erlöst.
(mündlich aus Reutte)
Quelle: Ignaz und Joseph Zingerle, Kinder- und Hausmärchen aus Süddeutschland, Regensburg 1854