Ignaz und Joseph Zingerle
Kinder- und Hausmärchen aus Süddeutschland
Regensburg 1854
Einleitung
Wenn es auch lange dauerte, bis Süddeutschland die Schätze
seines Volksmundes zu sammeln begann, so haben wir dennoch damit nichts
verloren, denn der schöne Eifer, der nun dort erwacht ist, bringt
uns reichere Gaben, als wir von dort erwarteten. E. Meier in Tübingen
hat den Reigen auf die anerkennenswerteste Weise eröffnet mit den
drei trefflichsten Sammlungen der schwäbischen Sagen, Märchen
und Kinderlieder; was er für Schwaben so geworden ist, das sind die
beiden Brüder Ignaz und Joseph Zingerle eben beschäftigt, für
das altedle Land Tirol zu werden: die Retter seiner Traditionen.
Sie haben ihre wahre Liebe dafür bereits auf vielfache Weise bewiesen,
so durch die vielen schönen und gehaltvollen Sagen, die sie in der
Zeitschrift "Phönix" und in der "Zeitschrift für
deutsche Mythologie und Sittenkunde" mitteilten, und noch mehr durch
die im Jahre 1852 erschienenen Volksmärchen aus Tirol; alles schönes,
reiches Erz aus ihren Bergen. Durch das vorliegende Buch wollen sie diese
wertvollen Mitteilungen fortsetzen; und gleich reiche von Sagen, Kinderreimen,
Volksliedern, Gebräuchen u.a. sollen bald folgen, so daß wir
ihre Ernte auf diesem Gebiet eine vollauf gesegnete nennen dürfen.
Wir müssen ihnen um so dankbarer sein, da sie mit diesem Streben
ganz allein unter den Ihren stehen oder doch nur von wenigen Freunden
kärglich unterstützt sind. Und nicht nur das - es fehlt selbst
dort nicht an Verachtung solcher Arbeiten von seiten der Pedanten und
Blasierten, welche einst auch über die Sammlungen der Brüder
Grimm die Köpfe schüttelten und die Achseln zuckten. Das Geschlecht
dieser knöchernen Seelen wird so bald nicht aussterben, aber ihre
Reihen lichten sich zusehends, und die der Freunde der Tradition mehren
sich mit jedem Tag durch den Zutritt von reinen, naturfreudigen, frischen
Gemütern, die noch von der Lust in sich tragen, mit der das Kind
nach Blumen und Vögeln und Schmetterlingen greift, und sich noch
jenes lebenleuchtenden Blickes in die Schöpfung freuen, der unseren
mittelalterlichen Dichtern einen so großen Reiz verleiht.
Hätten die Märchen auch keinen anderen Wert als den der bunten
und reichen Gestalt, in der sie vor uns treten, wir müßten
sicher auf ihre Erhaltung bedacht sein, solange noch Pietät gegen
das Vaterländische und Altüberlieferte einen Platz in unserem
Herzen hat. Aber sie sind mehr als das: sie haben einen reelleren Wert
dadurch, daß sie Licht auf die älteste Geschichte unseres Volkes
werfen, und zwar insofern, als sie uns einesteils alte Göttermythen
und Heldensagen aus dem späteren Heidentum unseres Volkes berichten
und andernteils den Zusammenhang unserer Stämme mit denen der Wiege
der Menschheit, von der sie vor undenklicher Zeit sich trennten und auszogen
zur neuen Heimat, oft mit großer Klarheit erkennen lassen.
So wohnt dem Märchen wie überhaupt der Volksüberlieferung
nicht nur ein poetischer, sondern auch ein großer historischer Wert
bei, und ihre Rettung und Sammlung sollte ein jeder sich angelegen sein
lassen, der für Deutschlands Urgeschichte einigen Sinn hat.
Der Mund des Volkes ist nämlich ein gar treuer Mund, wie jeder weiß,
der mit seinen Spinnstuben und anderen traulichen Zusammenkünften
an der Linde, am Brunnen, auf der Bank vorm Haus und anderswo bekannt
ist und da seinen Erzählungen horchte. Diese spinnen sich genau einmal
wie das andere Mal ab, und der Enkel gibt sie dem Enkel mit denselben
Worten, mit denen er sie von der greisen Großmutter empfangen hat.
Irrt er, dann dauert es nicht lange, und er verbessert sich; läßt
er etwas aus, er wird es bald nachholen; wollte er aber gar etwas von
sich hinzutun und so von dem althergebrachten Text abweichen, dann würde
man verschmähen, ihn ferner zu hören. Denn diese Märchen
werden nicht etwa nur einmal erzählt; sie sind der Mai in jedem Winter,
sie kehren mit dem Frost in alle Dörfer ein und lassen es warm und
fröhlich werden überall, wo sie sich zeigen. Sie sind wie ein
Wunschstab, der dem Geist die fernsten, idealsten Fernen vorzaubert wie
die Schlüsselblume, die dem Schäfer Berge voll Gold öffnet,
ihnen wohnt eine verjüngende Kraft bei wie dem Baum der ewigen Jugend.
Dies weiß und fühlt das Volk, und so läßt es sie,
wie sie sind; wo Änderungen vorkommen, da sind sie nur äußerlich,
der Kern bleibt immer derselbe.
Da dies auf dem Gebiet, wo die vorliegenden Märchen gesammelt sind,
noch weniger bekannt scheint, so mögen hier einige Zeugnisse folgen.
Die jüngere Edda erzählt von dem nordischen Gott Loki, der schuld
war am Tod seines Genossen Baldur, daß er sich aus Furcht vor Strafe
in Fischgestalt in einem Wasserfall verborgen hatte. Da griffen die Götter
zum Netz und zogen es durch den Wasserfall, aber Loki hatte sich unter
einem Stein verborgen, und das Netz ging das erstemal über ihn hinweg,
beim zweiten Zug geriet er zwar hinein, sprang aber auch wieder heraus,
als man ihn packen wollte. Das wollte er auch beim drittenmal, aber der
Donnergott Thor faßte ihn mit kräftiger Hand, und trotzdem
wäre er abermals entwischt, hätte Thor ihn nicht am Schwanz
festgehalten. Daher kommt es, sagt die Edda, daß der Salm, dessen
Gestalt Loki angenommen hatte, nach dem Schwanz zu so dünn ist.
So der Mythos des Nordens; hören wir nun auch das niederländische
und deutsche Märchen. Der heilige Petrus, der bekanntlich ein Fischer
war, zog eines Tages zum Fischzug aus, aber er fing nichts - bis zum letzten
Zug, da war das Netz ganz voll. Er warf die Fische heraus und in den Eimer,
aber den letzten konnte er nicht fassen, weil dieser immer hin und her
sprang. Endlich packte ihn Petrus oben am Rückgrat mit Daumen und
Zeigefinger und warf ihn zu den anderen, indem er sprach: "Du bist
ein Schelmfisch." Seitdem haben die Schellfische ihren Namen und
das Mal oben am Rücken.
Auf Helgoland erzählt man ebenso: "Der schmale schwarze Streifen,
welcher über den Rücken des Schellfisches läuft, wird von
den Fischern für eine Narbe vom Griff des heiligen Petrus gehalten."
Hier sind also nur die Personen andere, statt des Gottes Thor tritt St.
Petrus ein, aber der Fischzug, der Fang und das Mal auf dem Rücken
sind unverändert im Volksmund geblieben bis auf diese Stunde. Wie
hier aber der St. Petrus des alten Donnergottes Stelle einnimmt, so traten
viele andere Heilige an die Stelle anderer Götter, so die Heiligen
Michael, Martinus und Georgius an die des höchsten Gottes Wodan,
der heilige Andreas an die Fros, die heilige Muttergottes an die unserer
Göttinnen, und stets erfolgt die Übertragung mit derselben Genauigkeit.
Denn als das heilige Kreuz siegreich über den Trümmern des Heidentums
leuchtete, da vergaß das Volk die alten Götter nicht so ohne
weiteres; sie waren ihm seit urdenklichen Zeiten heilig, und das Volk
ist treu. Darum versteckte es sie gleichsam unter der Hülle der Heiligen,
und wo dies nicht ging, schmückte es die der alten Göttlichkeit
beraubten Scheitel mit dem Gold der irdischen Königskrone und behielt
die alten Orte ihrer Verehrung in sicherem, festem Andenken.
Oft aber, und zwar in den jüngeren Versionen, sinken die Götter
und Helden tief im Rang, wie uns z.B. aus vorliegender Sammlung "die
zwei Künstler" lehren: Dieses Märchen ist ein Stück
einer alten Heldensage, und der gleich Wieland im Fluggewand ausziehende
und die Königstochter raubende Jüngling ist trotz aller Entstellung
noch klar der alte Held. So finden wir ja den edlen Siegfried, wie er
im Märchen zum Schmiedejungen heruntergekommen ist, göttliche,
schöne Frauen, die nun als scheußliche Hexen umfliegen.
Gegen jene Vertauschung der alten göttlichen Wesen mit den Heiligen
protestierte die Kirche zwar fortwährend, sie versuchte mit aller
Kraft, sie auszurotten, es gelang ihr auch vielfach, doch sind von diesen
alten Mythen noch unzählige übrig, teils in dem Märchen
und mehr noch in der Sage.
Das ist die eine Seite, von der uns das Märchen hochwichtig ist,
die andere Seite führt uns noch ungleich tiefer in das Altertum zurück.
Ein Beispiel soll sie fortan klarmachen.
Es gibt ein schönes Märchen von einer Mutter, die ihr Kind verloren
hat und an seinem kleinen Grab bittere Tränen weint. Da erscheint
ihr das Kind in seinem Totenhemdchen, das ganz naß ist, oder mit
einem überlaufenden Krüglein und sagt: "Liebe Mutter, weine
nicht mehr, denn alle deine Tränen nässen mein Hemdchen"
oder "alle deine Tränen fallen in mein Krüglein, an dem
ich so schwer zu tragen habe, daß ich meinen herumziehenden Gefährten
nicht nachkommen kann." Da hörte die Mutter auf zu weinen und
vergoß nicht mehr eine Träne. Überall in Deutschland klingt
dieses wunderbare Märchen wider, man erzählt es sich ebenso
im hohen Norden, der Engländer erfreut sich daran, und noch mehr,
der Türke kennt es, und tief in Indien selbst weiß man die
schöne Kunde.
Noch eins. Ein anderes treffliches Märchen berichtet, wie der Herr
Christus einst niederstieg, die Herzen der Menschen zu prüfen. Da
kam er spätabends vor das Haus einer reichen Frau und bat um Einlaß
und Herberge, denn es war ein regnerisches, stürmisches Wetter. Aber
die reiche Frau rief dem Herrn zu: "Geh, ich will nicht von Bettlern
und Vagabunden mein Haus verunreinigt haben!"
Christus ging weiter und kam am Ende des Dorfes zu dem Haus einer armen
Frau. Da klopfte er gleichfalls an, und die Arme sprang aus dem Bett,
öffnete ihm die Tür und begrüßte den scheinbar müden
Wanderer freundlich; sie setzte ihm ein ärmliches Nachtessen vor,
ja sie gab ihm ihr eigenes Bett und schlief auf der Erde. Früh am
folgenden Morgen schied der Herr und segnete sie mit den Worten: "Was
du heute zuerst tust, das soll den ganzen Tag dauern." Dann dankte
er ihr und schied.
Die Frau ging in die Kammer zurück und nahm neues Linnen, um es zu
bügeln, und siehe, sie bügelte den ganzen Tag, und die Leinwand
nahm kein Ende bis zum späten Abend und wurde stets feiner und feiner;
ihr ganzes Haus war voll davon. Das vernahm die Reiche, lief dem Herrn
nach und bat ihn um Einkehr. Er tat es, sie bewirtete ihn prächtig,
und er sprach denselben Wunsch aus wie bei der Armen, aber zum Unheil
geriet er ihr; denn sie wollte sich durch Wein stärken, bevor sie
anfing, etwas zu tun, und drehte den Faßkran; da lief der Wein den
ganzen Tag, so daß er ihr ganzes Haus verdarb.
Auch dieses Märchen ist in Süddeutschland sehr bekannt, gleichfalls
in den Niederlanden, aber auch in China lebt es in derselben Gestalt,
nur vertritt Fo dort die Stelle, die Christus bei uns einnimmt.
So wird denn das schlichte Märchen zu einer uralten Urkunde von höchstem
Wert, die Zeugnis gibt von den ältesten Zeiten, in die unser Blick
ohne seine Erforschung nie dringen wird, Zeugnis von dem ursprünglichen
Zusammenhang der Völker. Da lohnt sich also wohl die Mühe, diese
Urkunden zu sammeln, und wir werden uns dadurch mehr und in höheren,
edleren Fragen gefördert sehen, als die Ziegelschnüffelei und
Wühlerei in römischen Gräbern und Bädern und das Suchen
nach alten Töpfen und Scherben es je vermag.
Spätere Tage werden mit Recht solche müßige Spielereien
belächeln, aber dankbar werden sie sein für jedes Märchen
und jede Sage, jeden Gebrauch und jedes Lied, jeden Segen und jeden Aberglauben,
der in unseren Tagen durch stets gesegnete Hände gesammelt und aufbewahrt
wird. Die toten Ziegel und Scherben sind meistens stumm, in der Tradition
aber lebt unsere herrliche, kräftige Urzeit jugendlich fort, dem
an Tiefe der Ideen und edlem Aufschwung kein Volk der Erde etwas Ähnliches
zur Seite stellen kann. Jene römischen Brocken, die sich ewig wiederholen,
haben uns lange nur mit den Eroberern des Vaterlandes beschäftigt,
und nicht viel haben wir von ihnen gelernt; die Tradition aber spricht
nur und allein vom Vaterland, sie schwellt unser Herz mit dem gerechtesten
Stolz auf jenes und treibt uns an, seiner neuen Blüte unser ganzes
Wesen zu weihen. Sie wühlt nicht in der Scholle, sie klebt nicht
an ihr, ihr Blick umfaßt nicht wenige Jahre oder Jahrhunderte, er
durchfliegt Jahrtausende und die ganze Reihe der Völker, die waren
und teilweise verschwanden, und freut sich der Heimat, die ihr über
alles geht.
Diese neue Sammlung, die ich in den Händen aller Freunde der Tradition
sehen möchte, bedarf keiner weiteren Empfehlung von mir. Wenn auch
nicht alles neu darin ist, so hat doch das Bekanntere oft neue Züge,
und das Neue fällt immerhin in die Waagschale.
Jugendheim, am 24. Juni 1854
J.W. Wolf
Quelle: Ignaz und Joseph Zingerle, Kinder- und Hausmärchen aus Süddeutschland, Regensburg 1854