Die Fanggen
Ein Büblein verirrte sich tief in den Wald und konnte um alle Welt
nimmer herausfinden. Wie es schon lange Zeit so herumgeirrt war und ihm
immer bänger zumute wurde, kam ein uraltes Weib daher, welches recht
schmutzig und zerlumpt aussah. Die Alte ging auf das Büblein zu und
lud es ein, ihr zu folgen. Das Büblein aber fürchtete sich sehr
und hatte keine Lust mitzugehen. Es nahm allerlei Ausflüchte und
versuchte, so bald als möglich die üble Gesellschaft loszuwerden.
Da fing die Alte an, mit allerlei Versprechungen und Drohungen dem Büblein
zuzureden, bis es endlich nachgab und sich mit ihr auf den Weg machte.
Die Alte humpelte voran, das Büblein ging hinterdrein, und so kamen
sie durch allerlei wüste, abscheuliche Orte zu einem Felsen, der
voller Höhlen und Löcher war. In eine solche Höhle gingen
sie hinein, und hier bekam das Büblein prächtig zu essen, wie
ihm die Alte versprochen hatte.
Aber was half dem armen Häuterlein das gute Essen? Es wurde in ein
enges Ställchen gesperrt, wo es Tag und Nacht zubringen mußte.
Es hatte immer Langeweile, und das Heimweh drückte ihm schier das
Herz ab. Dabei hatte es die große Furcht vor der Zukunft, denn alle
Tage kam ein altes Weib und befahl ihm, ein Fingerlein aus dem Stall zu
strecken, damit sie greifen könne, ob es bald fett genug sei. Denn
wenn es recht nudelfett wäre, so wollte sie es schlachten und braten.
Die bösen Weiber aber, die das Büblein in ihre Hände bekommen
hatten, waren Fanggen.
Sooft nun die Fangge zum Ställchen kam und das Büblein seinen
Finger herausstrecken sollte, so streckte es dafür einen Rechenzahn
heraus, den es zu seinem Glück gefunden hatte. Die Alte meinte immer,
das Büblein müsse bei der guten Kost fetter werden, allein tagtäglich
kam derselbe zaundürre Finger heraus, und tagtäglich mußte
die Fangge unwillig und murrend abziehen.
Einstmals aber hatte das Büblein den Rechenzahn verloren, und als
die Alte wieder kam, mußte es sein eigenes Fingerlein, das in der
langen Zeit sehr fett geworden war, aus dem Ställchen herausstrecken.
Die Alte fühlte es an und wunderte sich, daß das Büblein,
das sich früher nie länden 1) wollte, auf einmal so fett geworden
war. Sie rief sogleich eine noch ältere Fangge, welche bei dem Stall
Wacht halten mußte, während sie selbst zu den übrigen
Fanggen herumlief, um sie zu dem Braten einzuladen.
Dem Büblein war jetzt wohl recht übel zumute, aber alle Hoffnung
ließ es doch nicht sinken. Es fing an, die Alte, die vor dem Ställchen
stand, recht inständig zu bitten, sie solle ihm doch vergönnen,
ein wenig zu ihr hinauszugehen. Sie wollte anfangs nicht recht ja sagen,
aber wie das Büblein ihr versprach, ihr zum Dank dafür Läuse
zu suchen, so machte sie schnell die Tür auf. Das Büblein kam
heraus, setzte sich nieder und suchte der Alten, die ihm ihren grauen
Kopf in den Schoß gelegt hatte, die Läuse ab. Es dauerte nicht
lange, so schlief die Alte ein. Wie das Büblein dies merkte, gab
es ihr einen tüchtigen Schlag auf den Kopf und lief zur Höhle
hinaus. Dann floh es in den Wald hinein und lief in einem Atem fort, bis
es an einen Bach kam. Hier mußte es stehenbleiben, denn das Wasser
war zu groß, als daß es hinüberkommen konnte. Jetzt wird
das arme Bübchen halt warten müssen, bis die Fanggen nachkommen
und es wieder zurückbringen, um es zu schlachten und zu braten, hast
du gemeint.
Wenn das Büblein keinen Schutzengel gehabt hätte, so wäre
es ihm wohl nicht anders gegangen. Allein es kam der heilige Schutzengel,
nahm das Büblein unter den Arm und flog mit ihm über den Bach.
Als er es auf dem anderen Ufer niedergestellt hatte, liefen schon die
Fanggen heran, um das Büblein zu erwischen. Sie wußten aber
nicht, wie über den Bach zu kommen sei, und riefen daher zum Büblein
hinüber: "Büblein, wie bist du hinübergekommen?"
"Ich habe ein Brettlein genommen
Und bin herübergeschwommen."
Da suchten alle Fanggen Brettlein zusammen, warfen sie ins Wasser und setzten sich darauf. Allein das Wasser nahm sie mit fort, und alle miteinander ertranken. Und seitdem gibt es keine Fanggen mehr, aber ihre Löcher, wenn es dich wundert, die kannst du noch sehen.
1) sich landen, länden: fett werden
(mündlich aus dem Oberinntal)
Quelle: Ignaz und Joseph Zingerle, Kinder- und Hausmärchen aus Süddeutschland, Regensburg 1854