Die Furchtlerner
(1)

Es war einmal ein Vater, der hatte eine große Schar Kinder. Im Frühling stiegen die Kinder öfter auf die Kirschenbäume, und da ereignete es sich einmal, daß der älteste Bub herabfiel. Der Vater stand unten und schrie: "Holla, jetzt bin ich erschrocken!"

Da stand der Bub sogleich auf und fragte: "Vater, was ist denn erschrecken?"

"Was erschrecken ist", antwortete der Vater, "das wirst du schon lernen, wenn du in die Welt hinauskommst."

Da ließ sich der Sohn nicht mehr aufhalten und sagte, es wundere ihn gar sehr, was das Erschrecken sei, und er müsse schnell in die Welt hinausgehen, um diese Kunst zu studieren. Der Vater ließ ihn gehen, weil er doch noch Kinder genug daheim hatte, und dachte sich: "Das Erschrecken wirst du bald genug lernen, darum habe ich keinen Kummer."

Der Bub ging mutterseelenallein der Landstraße nach, und wenn ihn jemand anredete und fragte, wo er hingehe, dann sagte er immer nur: "Ich gehe erschrecken lernen."

Da lachten ihn denn die Leute aus und ließen ihn wieder allein gehen, denn sie meinten, er wäre ein Halbnarr, mit dem sich nicht viel anfangen lasse.

Eines Abends kam er zu einem Wirtshaus, und da es schon spät war, kehrte er ein, um da über Nacht zu bleiben. Weil er ganz allein und verlassen an einem Tisch saß, erbarmten sich einige Leute über ihn, setzten sich an seinen Tisch und wollten ihm Gesellschaft leisten. Sie kamen mit ihm auf allerlei zu reden und fragten ihn unter anderem, wo er hingehe.

"Erschrecken lernen", gab er zur Antwort.

Da lachten sie ihn aus und sagten: "Wenn du nur das willst, so wissen wir einen guten Ort, wo du es lernen kannst."

"Und wo ist der Ort?" fragte der Bub.

"Siehst du", sagten sie, "da drüben hat der Wirt ein Schloß, dahin mußt du gehen, und du wirst das Erschrecken alsbald kennen."

Sogleich stand der Bub auf, ging zu dem Wirt und bat ihn, er solle ihm doch sogleich das Schloß auftun, damit er einmal lerne, was erschrecken sei.

"Das kannst du drüben wohl lernen", sagte der Wirt, führte ihn zum Schloß und ließ ihn hinein. Hinter ihm sperrte er die Tür wieder zu, das war aber dem Buben gleich, denn er dachte, zuletzt würden sie ihn wohl doch wieder hinauslassen.

Er ging nun hinauf in die Küche, suchte das bißchen Holz zusammen, das noch unter dem Herd lag, und machte ein Feuer an. Es ging gegen Mitternacht, und das Holz war beinahe schon abgebrannt, so daß er meinte, er müsse bald im Finstern bleiben. Da regte sich auf einmal etwas im Kamin, und es fiel ein Stück Totenbahre herab. "Zu einer besseren Zeit hättest du nimmer herabfallen können", sagte der Bursche, nahm das Holz und schürte es an. Das Feuer leuchtete ihm nun wieder ein bißchen heller, und er hoffte, wenn es zu Ende ging, so würde wohl wieder etwas herabfallen.

Auf einmal regte es sich wieder im Kamin, und es fiel eine Hand herab. "Ist auch zu brauchen", sagte er, "jetzt habe ich drei Hände, damit geht das Arbeiten leichter."

Bald darauf rumpelte es wieder, und es kam ein Fuß. "Auch gut, zu drei Händen gehören drei Füße. Wie ist's, kommt noch etwas nach?"

Es rumpelte wieder, und da kam noch eine Hand, und dann rumpelte es noch einmal, und es fiel wieder ein Fuß herab. "Jetzt ist's gar gut, hab' ich ja vier Händ' und vier Füße. Wenn etwas inzwischen hinein und oben darauf käme, so wäre es ja ein ganzer Mensch."

Auf einmal rumpelte es viel ärger, und es fiel ein Rumpf auf den Herd. Da ging der Bursche hinzu, legte die Hände und die Füße, wo sie hingehörten, und siehe da, alles wuchs so fest zusammen, als ob es nie getrennt gewesen wäre. "So, jetzt wärst du ein Kerl, es ist schade, daß du nicht einen Kopf auch noch hast."

Da rumpelte es wieder, und es kugelte ein Kopf herab. Den faßte der Bursche bei den Haaren und legte ihn an seinen Platz. Der Kopf wuchs sogleich an, und der Bursche hatte seine Freude mit dem neugemachten Menschen, der auf dem Herd lag. "Gut", sagte er, "jetzt bist du ja ein Kerl, fast stärker als ich."

Da erhob sich der Neugemachte, sprang vom Herd herab und rief: "Jetzt will ich dich zerreißen."

"Was, du mich zerreißen, wenn ich dich gerade zusammengemacht habe! Halt's Maul mit solchen Reden, oder ich zeig' dir, was zerreißen ist."

Da wurde der andere ein wenig sanfter und sagte: "Jetzt geh mit mir!"

"Mit dir gehen will ich schon", antwortete der Bursche, und ging mit. Sie kamen in einen tiefen Keller hinab, und da lagen drei große Haufen Geld. Der Geist hub wieder an zu reden und sprach: "Von diesen drei Haufen gehört einer dir, einer den Armen und einer dem Wirt. Das Schloß gehört auch dir, und der Wirt, der es bisher ungerechterweise besessen hat, bekommt für die wenigen Ansprüche, die er darauf hat, den Haufen Geld. Ihr werdet jetzt wieder sicher in dem Schloß wohnen können, wenn es nicht mehr einem unrechtmäßigen, sondern dir als rechtmäßigem Besitzer gehört."

Hiermit verschwand der Geist, und der Bursche war mutterseelenallein in dem Keller.

Morgens ging er hinauf und schaute, ob der Wirt die Tür schon aufgesperrt habe. Als er hinkam, war sie schon offen, und die Wirtsleute standen vor dem Schloß, um zu sehen, ob es vielleicht doch einmal einem geglückt wäre, mit dem Leben davonzukommen. Als er frisch und gesund zur Tür hinauskam, lachten sie und riefen: "Wie ist's, weißt du jetzt, was erschrecken ist?"

"Nein, das weiß ich noch nicht, aber etwas anderes kann ich euch sagen, wenn ihr mit mir geht."

Sie wunderten sich, was das etwa sei, und gingen mit. Er führte sie in den Keller, zeigte ihnen die drei Haufen und sagte: "Der Geist, der in der Nacht gekommen ist, hat mir das Schloß geschenkt und einen von den drei Haufen. Der andere Haufen gehört dem Wirt und der dritte den Armen."

Als die Wirtsleute das hörten, beneideten sie den Buben und die Armen um das, was sie bekommen sollten, und ihr Neid war so groß, daß sie über den armen Kerl herfielen und ihn maustot schlugen. Da verschwanden aber augenblicklich die drei Haufen, und in dem Schloß war es wieder unheimlich wie vordem.

(mündlich bei Meran)

Die Furchtlerner

(2)

Es war einmal ein Vater, der hatte drei Söhne. Einer von ihnen hieß Hansl und war ein rechter Tölpel. Die anderen zwei waren schon in die Fremde gezogen, und der Vater wartete immer, ob nicht bald einer zurückkomme. Da fiel es eines Tages dem Hansl auch ein fortzugehen, denn er sagte, er müsse das Fürchten lernen, damit er sich unter ehrlichen Leuten sehen lassen könnte. Der Vater wollte ihn zurückhalten, allein da half alles nichts, denn was der Hansl einmal im Kopf hatte, das konnte man mit Stock und Prügel nimmer heraustreiben.

Er ging nun eine gute Zeit immer der Nase nach und kam eines Tages in ein Wirtshaus. Da erzählte er, warum er auf dem Weg sei, und brummte auch oft vor sich hin: "Wenn ich nur das Fürchten bald lernte, damit ich wieder heimgehen und beim Vater bleiben könnte." Der Wirt ließ ihn nachmittags mit sich in den Stall gehen und zeigte ihm seine Pferde. "Hoi", sagte der Hansl auf einmal, "woher hat denn der Herr Wirt diese zwei Rosse?" Denn er erkannte, daß es jene waren, auf denen seine Brüder in die Fremde geritten waren.

"Oh", sagte der Wirt, "diese beiden haben zwei Fremden gehört, die da in das Schloß hinaufgegangen und nimmer zurückgekehrt sind. Aber, ist wohl wahr, da droben wäre ja für dich der beste Platz, da könntest du das Fürchten gleich von Grund aus lernen."

Als das der Hansl hörte, war er voll Freude, ging sogleich in das Schloß und sah sich einmal alles an. Er fand da gar nichts Besonderes und ging wieder heraus. Da sah er an der Schloßmauer eine Hollerstaude, machte sich zur Kurzweil darüber her und pflückte Beeren. Als es finster zu werden anfing, ging er hinauf in die Küche, schürte ein Feuer an und kochte ein Hollermannl 1). Er hatte die Pfanne eben über das Feuer gestellt, da kam einer zur Tür herein, der gar kein freundliches Aussehen hatte. Der Hansl aber fürchtete sich nicht im mindesten, blies zuerst besser an und sagte dann zu dem Kameraden: "Ist recht fein, daß du auch kommst, denn so allein wird mir die Zeit lang. Ich habe schon so viel Hollermannl, daß wir beide genug haben; jetzt mußt du aber ein wenig warten, bis es gekocht ist."

Der andere wollte nicht warten und sagte: "Geh du sogleich mit mir!"

"Gleich kann ich nicht gehen", erwiderte der Hansl. "Du mußt wissen, daß mir das Hollermannl anbrennt, wenn ich davonlaufe, und wäre doch schade um die gute Sache."

Der andere ließ sich nicht überreden und schnarrte: "Wenn du nicht sogleich gehst, dann zerreiß' ich dich."

"Du schaust genauso aus, als ob du jemand zerreißen könntest", spottete der Hansl.

Der andere gab aber nicht nach und zog jetzt zartere Saiten auf, damit der Hansl mitginge. "Schau", sprach er, "deinem Hollermannl geschieht gewiß nichts, wenn du mit mir gehst. Ich gebe dir mein Wort dafür, daß du es wieder gut antriffst, und wenn es nicht so ist, dann kannst du mir antun, was du willst, sobald wir zurückkommen."

Er Hansl hörte, daß seinem Hollermannl nichts geschehe, ließ er sich endlich bewegen und sagte, er wolle mitgehen.

Da fragte aber noch der andere: "Fürchtest du dich denn gar nicht, wenn du mitgehst?"

"Ist das eine Frage", sagte der Hansl, "ich weiß ja nicht einmal, was fürchten ist, wie soll ich's dann erst zuwege bringen?"

Nun gingen sie über etliche Stiegen hinab und kamen zu einer Tür. "Da mach auf", rief der Geist dem Hansl zu.

"Du hast schon gehört", erwiderte der Hansl, "daß ich keinen Spaß versteh'. Machst du nicht gleich auf, daß wir weiter kommen, so geh' ich hinauf und schaue zu meinem Hollermannl."

Jetzt gab der Geist nach und machte auf. Als sie hineinkamen, war da ein ungeheurer Hund, der ein feuriges Maul zeigte und die zwei mit großen Augen anglotzte.

Der Hansl wurde zornig, als der das Tier sah, und schrie: "Gedacht hab' ich's mir zuvor, du wirst da einen Kerl haben, der mir mein Hollermannl frißt. Jetzt laufe ich gleich hinauf und lass' dich allein gehn."

Der Geist besänftigte ihn, indem er ihm wieder versprach, daß dem Hollermannl gewiß nichts geschehe. Dann fragte er ihn: "Hast du Mut, den Hund hinauszujagen?"

"Warum soll ich dem Vieh nicht den Weg zeigen?" fragte der Hansl und rannte dem Hund so derb an den Leib, daß er davonlief wie der Wind und auf allen Seiten die Ganstern 2) hinausflogen. Während der Hansl dem Hund nachschaute und lachte, war der Geist ein wenig weiter gegangen. Hansl sah das und schrie: "Halt ein bißchen, ich darf dich nicht zu weit von mir weggehen lassen, damit ich dir die Schläge herabmessen kann, wenn etwa das Hollermannl hin ist."

Der Geist wartete, und der Hansl kam nach.

Bald kamen sie an eine zweite Tür. Der Geist hieß den Hansl aufmachen, Hansl aber wurde zornig und fuhr ihn an: "Das Vieh frißt so schon das Hollermannl oben. Wenn du nicht gleich aufmachst, kriege ich gar nichts mehr."

Der Geist sagte: "Noch ist's ja heiß, so kann er's nicht fressen", er tat aber dem Hansl seinen Willen und sperrte auf. Als sie hereinkamen, fanden sie abscheuliche Schlangen, und der Geist reichte dem Hansl eine Peitsche und sagte: "Da, jage die Schlangen hinaus."

Der Hansl wollte aber nicht recht anpacken, denn es war ihm um das Hollermannl zu tun, und er dachte, die scheußlichen Bestien könnten es ihm fressen.

Der Geist aber sprach ihm Mut zu und sagte: "Dem Hollermannl geschieht gewiß nichts, nimm du nur die Peitsche und verjage die Bestien!"

Da nahm der Hansl die Peitsche, wichste den Schlangen ein paar auf den Rücken, und sie fuhren wie der Wind zur Tür hinaus.

Die zwei gingen nun weiter und kamen zur dritten Tür. "Mach auf da!" sagte der Geist.

Der Hansl aber machte nicht auf, sondern begehrte lieber einen Besen, um die Schlangen droben zu verjagen, wenn sie sein Hollermannl angreifen würden. Da sperrte denn der Geist selber auf und hieß den Hansl mit sich hineingehen. Da standen nun drei Fässer, und darin lagen viele Schlangen und anderes abscheuliches Getier. "He, Hansl", rief der Geist, "nimm die Kreaturen und wirf sie hinaus!"

"Jetzt ist's gleich, ob ich dir gehorche oder nicht", sagte der Hansl, "denn das Hollermannl ist doch hin. Sag nur, wo ich anpacken soll."

"Anpacken kannst du, wo du willst", antwortete der Geist.

"Dann ist's auch recht", sagte der Hansl, rannte an ein Faß und warf alles heraus, ging dann zum zweiten und dritten und machte es ebenso. Als die abscheulichen Tiere aus dem Faß waren, fuhren sie schleunig zur Tür hinaus und ließen sich nicht mehr sehen.

Aber in den drei Fässern war jetzt lauter Geld, und zwar im ersten Kupfer, im zweiten Silber und im dritten nichts als Gold.

Der Hansl machte große Augen bei den drei Fässern, und der Geist sagte: "Jetzt will ich dir auch Weis' und Lehre geben, was du mit den drei Fässern zu tun hast. Das Kupfer teilst du unter die armen Leute aus, das Silber gibst du an arme Klöster und Kirchen, und das Gold behältst du für dich. Jetzt lebe wohl, und ich bedanke mich für die Erlösung!"

"Oho", schrie der Hansl, "ich muß zuvor sehen, ob mein Hollermannl noch droben ist, sonst kommst du mir ohne Schläge nicht fort."

Hiermit packte er den Geist und führte ihn hinauf in die Küche. Das Hollermannl war ordentlich gekocht, und kein bißchen davon war verbrannt oder aufgefressen. Das gefiel dem Hansl, denn er hatte großen Hunger, und es wäre ihm jetzt um nichts mehr leid gewesen als um das Hollermannl.

"Iß da", sagte er zum Geist, "du schaust nicht aus, als ob du zu viel zu essen bekämst."

Der Geist aß aber nicht und wurde immer blasser und blasser.

"Iß da", sagte der Hansl noch einmal und stellte die Pfanne vor ihn hin.

Der Geist aber aß immer noch nicht und wurde endlich ganz weiß. Da sagte er zum Hansl: "Du hast mich endlich erlöst, nachdem viele ihr Leben darangesetzt haben und zugrunde gegangen sind. Hätten sie auch soviel Mut gehabt, so wäre ich lange schon erlöst und hätte nicht erst auf dich warten müssen. Aber zum Dank sollst du jetzt außer dem Geld auch noch das Schloß haben."

Am anderen Morgen ging der Wirt vor das Haus, schaute zu dem Schloß hinauf und dachte: Den hat's wohl auch. Jetzt wird er wohl wissen, was Fürchten ist.

Da kam gerade der Hansl heraus, sah den Wirt und rief: "Nur geschwind mit Rossen herauf, wir müssen das Geld hinabführen."

Da wunderte sich der Wirt sehr, ging hinauf und fragte, wie es die Nacht zugegangen sei. Der Hansl erzählte alles, beklagte sich aber, daß er noch nicht fürchten gelernt habe. Da redete ihm der Wirt zu und sagte, er sollte doch einmal nach Hause gehen und dem Vater von seinem Glück erzählen, denn das Fürchten sei nicht eine gar so wichtige Sache.

"Ja, es wäre leicht, heimzugehen, wenn ich auch das Geld mitbrächte", sagte der Hansl.

Da versprach der Wirt ihm ein Fuhrwerk zu leihen, und der Hansl fuhr mit einem Haufen Geld zum Vater heim.

Da wird er ihm wohl auch von den zwei Brüdern erzählt haben, die im Schloß zugrunde gegangen sind. Ob er aber noch einmal ausgezogen ist, das Fürchten zu lernen, das kann niemand sagen.

1) Mehlspeise, mit Holunderbeeren vermengt
2) Ganstern: Funken

(mündlich bei Schlanders)

Quelle: Ignaz und Joseph Zingerle, Kinder- und Hausmärchen aus Süddeutschland, Regensburg 1854