Der Vogel Phönix, das Wasser des Lebens und die Wunderblume
Es verirrte sich einmal ein junger Ritter auf der Jagd dergestalt, daß
er um alles in der Welt den Rückweg nimmer finden konnte. Von allen
Seiten umstanden ihn alte Tannen, moosige Lärchen und riesige Fichten,
und kein Weg und kein Steig zeigte ihm den Heimweg. Da war er gar traurig
und suchte von neuem einen Ausweg, doch es war umsonst. Es begann schon
Abend zu werden, und die letzten Strahlen der Sonne zitterten und schossen
durch die Äste der Bäume, daß es ein lustiges Spiel war,
dann verschwanden sie. Es wurde nun im dichten Wald noch dunkler und unheimlicher.
Da dachte sich der Ritter, im Wald hausen gar viele wilde Tiere, und diese
werden mich zerreißen und auffressen, wenn sie mich hier finden.
Er besann sich hin und her, was in seiner Lage zu tun sei.
Wie er so eine Zeitlang nachgedacht hatte, fiel ihm ein, auf einen Baum
zu steigen, um dort zu übernachten. Er hoffte, daß er dort
sicher sein werde. Gesagt, getan. Er kletterte die zunächststehende
Tanne empor und immer höher und höher, bis er auf einem der
höchsten Äste drobensaß wie ein Eichhörnchen. Wie
er so auf dem hohen Baum droben war, konnte er den Wald nach allen Seiten
hin übersehen.
Er hatte sich noch nicht lange umgeschaut, als er plötzlich ein Licht
nicht gar ferne schimmern sah. Er merkte sich die Gegend genau, von der
der Schein kam, stieg dann behend vom hohen Baum herunter und wanderte
dem Licht zu. Mit seinem Schwert haute er sich einen Weg durch das Gestrüpp
und durch die Dornen, bis er endlich müde vor einer ärmlichen
Bauernhütte, in der das Licht brannte, ankam. Er klopfte an die Tür
und bat um eine Nachtherberge. Kaum hatte er dies getan, öffnete
sich die Tür, und ein altes Bäuerlein hieß ihn willkommen.
Er wurde in die Stube geführt und dort von den Töchtern des
Bauern gar freundlich aufgenommen. Eine davon ging alsogleich in die Küche,
machte dort Feuer an und sott ihm einige Eier. Der Ritter erzählte,
wie er sich verirrt habe und dann andere Jagdabenteuer, die er früher
bestanden hatte. Als er das schmale Nachtessen zu sich genommen hatte,
legte er sich, weil er so müde war, auf die Ofenbank, auf der er
übernachten sollte. Er lag nicht lange, als der Schlaf sich einstellte
und er gar süß zu schlummern begann.
Wie die drei Töchter des Bauern merkten, daß der schöne
Ritter eingeschlafen war, fingen sie an von ihm zu reden. Da sagte unter
anderem die älteste: "Wenn ich einen so schönen Mann bekommen
würde, müßten meine Kinder werden wie Milch und Blut."
Die zweite meinte, wenn sie einen so stattlichen Burschen hätte,
müßten ihre Kinder lieblicher als Schnee und Wein aussehen.
Da nahm die jüngste das Wort und sprach: "Bleibt mit euren Wünschen
zu Hause! Wenn ich einen so prächtigen Mann bekommen würde,
müßte ich Kinder kriegen so schön wie weiße und
rote Rosen, und ihre Haare müßten sein wie von purem Gold!"
Als sie dies sprach, war der Ritter gerade erwacht und hörte ihre
Rede. Und weil das Mädchen so schön war, entschloß er
sich, es zur Frau zu nehmen. Er hielt sich aber ruhig und still und ließ
von seinem Vorhaben nichts merken. Am andern Tag, als die jüngste
zuerst in die Stube gekommen war, eröffnete ihr der Ritter seinen
Entschluß. Das Mädchen wußte nicht, wie ihr geschah.
Es blickte bald fragend den Ritter an, bald schlug es die Augen zu Boden.
Als aber der schöne Herr auf seiner Rede bestand, hatte sie eine
übergroße Freude und wußte nicht, was sie vor Lust tun
sollte. Der Ritter teilte sein Anliegen ihrem Vater mit, und da dieser
nichts dagegen einzuwenden hatte, war die Heirat beschlossen, es mochte
die beiden älteren Schwestern ärgern wie es wollte.
Der Ritter nahm noch am selben Tag von der Bauernhütte Abschied und
kehrte mit seiner Braut auf sein Schloß zurück. Da ging es
nun lustig und laut her, als die Hochzeit gefeiert wurde, daß der
Traurigste hätte froh werden müssen. Der Ritter und seine schöne
Frau lebten nun ein glückliches Leben, und sie meinte oft, es könnte
im Himmel nicht feiner sein, als sie es hier auf Erden hatte.
Es dauerte aber nicht lange, und das Glück wurde gestört. Der
Ritter mußte nämlich in den Krieg ziehen, um das Land zu verteidigen,
und da hatte die Frau gar trübe, traurige Zeiten. Sie verging fast
vor Sehnsucht nach ihrem lieben Gemahl und konnte vor Leid beinahe weder
essen noch schlafen. Während der Ritter noch im Felde stand, erfüllte
sich die Zeit der Frau, und sie gebar zwei Kinder, ein Söhnlein und
ein Töchterlein. Die Kinderlein waren aber so schön wie rote
und weiße Rosen, und ihre Haare waren von purem Gold. Da hatte die
Frau eine unaussprechliche Freude, daß ihr Wunsch so in Erfüllung
gegangen war, und wollte ihrem Herrn gleich davon Nachricht geben. Sie
bat deshalb eine Schwester, die aufs Schloß gekommen war, um die
Kinder zu betreuen, dem Ritter vom glücklichen Ereignis zu schreiben.
Diese ließ es sich nicht zweimal sagen und schrieb einen Brief.
Weil sie aber schon lange Zeit die jüngste Schwester um ihr Glück
beneidet hatte, meldete sie dem Ritter im Brief, seine Gemahlin habe zwei
Kinder bekommen, sie hätten aber Hundsköpfe und seien so häßlich,
daß sie ihm raten müsse, diese ins Wasser werfen zu lassen.
Mit diesem Brief sandte sie einen Boten an den Ritter.
Der wollte anfangs, als er das Schreiben las, seinen Augen nicht trauen.
Als er aber den Brief wieder gelesen hatte und sah, daß es wirklich
so heiße, war er zuerst innigst betrübt, doch bald verwandelte
sich sein Schmerz in wütenden Zorn, und er gab Befehl, man sollte
die Kinder in das Wasser, seine Gemahlin aber ins Gefängnis werfen.
Die grausame Anordnung des Ritters wurde vollführt. Die Rabenschwester
ließ die zwei schönen Kinder in einen Mühlbach und die
Frau Ritterin in den Kerker werfen. Der Schmerz über diese schnöde
Behandlung und die Trennung von ihren Kindern betrübten aber die
gute Frau so sehr, daß sie erkrankte und in kurzer Zeit wie tot
im Kerker gefunden wurde.
Die armen Kinder wurden vom kalten Wasser weggetragen, bis sie von einem
Rechen, der sich bei einer einsamen Mühle befand, aufgehalten wurden.
Als der Müller, der ein seelenguter Mann war, die armen, nassen Kinderlein
sah, hatte er das größte Mitleid mit ihnen, nahm sie aus dem
Wasser und trug sie in die Stube. Da sah er erst recht, wie schön
sie waren, und konnte sich nicht satt an ihnen schauen. Wie er merkte,
daß die Kinderlein noch am Leben waren, empfand er die größte
Freude, legte sie in sein Bett und gab ihnen, als sie sich erholt hatten,
zu essen und zu trinken. Er entschloß sich, die Kleinen, weil sie
gar so schön waren, bei sich zu behalten und großzuziehen.
So lebten nun Brüderchen und Schwesterchen in der Mühle, wuchsen
und wurden von Tag zu Tag schöner und lieber. Der Müller hatte
seine Freude an ihnen und liebte sie so, als ob es seine eigenen Kinder
wären, und sie hielten ihn für ihren wahren Vater und taten
alles, was sie ihm an den Augen ansehen konnten.
So ging es viele Jahre. Als die zwei Findlinge eines Abends wieder in
der Stube bei dem Müller saßen, das Mädchen spann und
der Knabe schnitzte, da eröffnete ihnen der Müller, daß
er nicht ihr rechter Vater, sondern nur ihr Nährvater sei. Die Kinder
machten, als sie dies hörten, große Augen und wollten den Worten
ihres vermeinten Vaters nicht glauben. Wie der Müller dies sah, erzählte
er ihnen haargenau, wie er sie gefunden habe und daß er trotz aller
Bemühungen ihre Eltern nicht habe auffinden können.
Die guten Kinder wurden über diese Nachricht tief betrübt. So
lieb der alte Müller gegen sie war und so gut es ihnen in der Mühle
ergangen war, so kam ihnen nun doch alles fremd vor, und sie empfanden
eine große Sehnsucht nach ihrer wahren Heimat. Sooft sie allein
waren, sprachen sie darüber, wo wohl ihr Vaterhaus sein könnte,
und nachts träumten sie davon. Diese Sehnsucht wurde nach und nach
so stark, daß sie beschlossen, die Mühle und ihren Pflegevater
zu verlassen und in die weite Welt zu wandern, um die Heimat aufzusuchen.
Der Müller riet ihnen anfangs von ihrem Beginnen ab, als er aber
sah, daß sie sich von ihrem Vorhaben nicht abwendig machen ließen,
gab er ihnen seinen Segen, gute Lehren und ein Säcklein mit Lebensmitteln
mit auf die Wanderung. Sie zogen nun aus und gingen, weil ihnen der Müller
erzählt hatte, daß er sie im Mühlbach gefunden habe, bachaufwärts.
So waren sie schon lange gegangen und hatten von ihrer Heimat und ihren
Eltern keine Spur entdeckt. Da kamen sie eines Abends müde und matt
zu einer großen, großen Stadt, und vor dieser stand ein prächtiges
Schloß mit einem schönen Tor und hohen Türmen.
"Schau, es will schon Nacht werden", sprach das Mädchen,
"und ich bin so müde, daß ich fast keinen Fuß mehr
aufheben kann!"
Das Bübchen antwortete: "Ich bin auch müde und dazu hungrig.
Geh, schauen wir, daß wir im Schloß hier über Nacht bleiben
können."
Sie gingen nun zum Burgtor und baten dort um eine Herberge. Dem Torwart,
der sonst ein mürrischer, griesgrämiger Kauz war, gefielen die
bildschönen Kinder so, daß er sie einließ und ihnen freundlich
Bescheid gab. Der Ritter hatte an den Kindern sein Wohlgefallen und fühlte
sich, ohne zu wissen warum, zu den Kleinen hingezogen. Er sprach lange
und viel mit ihnen, ließ sie gut bewirten und wünschte ihnen
eine gute Nacht. Da waren Brüderchen und Schwesterchen seelenvergnügt
und suchten, nachdem sie sich satt gegessen hatten, ein warmes Nestchen,
worin sie gar gut schliefen und allerlei zusammenträumten. Als der
Tag schon vorgeschritten war, erwachten die Zwillinge, nahmen ihr Frühstück
und wollten dann weitergehen, ihre Heimat aufzusuchen. Bevor sie jedoch
weiterwanderten, gingen sie zum Ritter, um ihm für die Nachtherberge
zu danken. Dieser empfing sie sehr freundlich und fand die Kinder so lieb,
daß er sie nicht weiterziehen ließ. "Bleibt nur noch
eine Zeitlang bei mir, sprach er, und es soll euch nichts fehlen."
Den Kindern gefiel dieser Antrag, und sie entschlossen sich bald, in dem
Schloß zu bleiben. So freundlich aber der Ritter war, so ungünstig
war seine Wirtschafterin. Diese hatte gegen die fremden Bälge, wie
sie die zwei Kinder nannte, die größte Abneigung und wollte
sie selbst durch Gewalt aus dem Weg räumen. Sie gab ihnen nur böse
Worte, stieß sie hin und her, sooft der Ritter es nicht sah, und
begegnete ihnen auf die liebloseste Weise. Als sie sah, daß die
Kinder trotzdem im Schloß blieben und keine Miene machten sich zu
entfernen, versuchte sie durch List den Knaben, der ihr am meisten zuwider
war, zu verderben. Sie tat ihm nun schön, gab ihm gute Worte und
schmeichelte sich bei ihm ganz und gar ein. Der gute Knabe ahnte nichts
Böses, nahm alle ihre Liebkosungen für bare Münze und war
ihr in allem willfährig.
Da sprach sie eines Morgens zu ihm: "Du könntest mir eine große
Freude machen, wenn du mich wirklich gern hast." Der Knabe fragte
sie, was er tun sollte, und sie antwortete: "Wenn du in den Wald
hinausgingest, den Vogel Phönix zu holen, wärst du der bravste
Bursche auf der Welt."
Dies sagte sie, weil sie wohl wußte, daß es dem Burschen unmöglich
sein werde, und weil sie hoffte, der Knabe werde im Wald, der von wilden
Tieren wimmelte, zerrissen und aufgefressen werden.
Der Knabe nahm seine Joppe und seinen Strohhut und ging guter Dinge in
den finsteren Forst hinaus. Er war voll Freude und sah auf jeden Baum
hinauf, in der Meinung, es könnte darauf der Phönix nisten.
So war er schon eine gute Strecke gewandert, und der Wald wurde immer
dichter. Uralte Bäume standen so dicht, daß ihre bemoosten
Äste ineinandergriffen und undurchdringliche Gehege bildeten. Da
war guter Rat teuer, und dem Knaben fiel das Herz in die Hosen. Er fing
an sich zu fürchten und wußte nicht mehr wo ein und wo aus.
Wie er so ratlos dastand, kam ein Fuchs dahergeschlichen, der einen ellenlangen
Schweif nachzog und gar pfiffig dreinschaute. Als er ganz in die Nähe
des Knaben gekommen war, fing er an zu reden und sprach: "Ich weiß
wohl, du willst den Vogel Phönix. Wenn du aber mir nicht folgst,
so wirst du den Wundervogel nie bekommen."
Der Knabe konnte sich über den redenden Fuchs nicht genug wundern,
und ihm kam die ganze Sache nicht geheuer vor; doch folgte er dem Fuchs,
der sich oft nach ihm umsah. Als sie so eine Strecke schweigend fortgewandert
waren, kamen sie zu einem ungeheuren Strom, der hoch und wild einherging.
"Da drüben hat der Phönix sein Nest", sprach der Fuchs,
als sie am Ufer standen. "Da hinüber mußt du, obwohl keine
Brücke ist. Doch das macht nichts, wenn du nur Mut hast. Hänge
du dich nur an meinen Schweif und halte dich an ihm fest, dann sollst
du glücklich hinüberkommen. Läßt du aber den Schweif
los, wirst du unrettbar verloren sein."
Der Knabe hängte sich nun an den Schweif des Fuchses, und dieser
sprang in den Fluß hinein und schwamm lustig durch das Wasser. Ehe
man's erwartet hätte, standen beide, freilich durchnäßt
wie eine getaufte Maus, am jenseitigen Ufer. Da ragte ein steiler Felsen
empor und daran hing, wie hinaufgeklebt, das Nest, aus dem drei junge
Phönixe herausguckten. "Siehst du", sprach der Fuchs, "das
Nest dort oben? Da mußt du nun hinauf und von den drei Jungen dasjenige
holen, das in der Mitte ist. Würdest du aber ein anderes erwischen,
müßtest du sterben."
Der Knabe kletterte nun hinauf wie eine Spinne, packte den bezeichneten
Phönix und brachte ihn glücklich herunter. Nun ging es an die
Rückfahrt. Der Knabe hängte sich wieder an den Schweif des Fuchses,
und dieser schwamm wieder durch das wilde Gewässer ans Ufer. Dann
geleitete er den Knaben durch den wilden Wald bis zum Feld, und erst hier
verließ er ihn. Dem Burschen war jetzt katzenwohl, weil er das Schloß
wiedersah, und er eilte mit der größten Freude darauf zu. Dort
angekommen, lief er jubelnd zur Frau und gab ihr den Phönix. Diese
nahm den Vogel an, lächelte und lobte den Burschen, obwohl ihr Herz
vor Gift und Galle schwoll.
Nachdem ihr der erste Versuch, den Knaben zu verderben, mißlungen
war, sann sie einen neuen Plan aus, ihn loszuwerden. Dazu bot sich bald
eine Gelegenheit. Der Graf wurde krank, so schwer, daß der herbeigerufene
Doktor die Sache sehr bedenklich fand. Er zuckte die Achseln, räusperte
sich und sprach sich endlich dahin aus, dem Kranken könne nur durch
das Wasser des Lebens geholfen werden. Die böse Wirtschafterin ging
nun zum Knaben und trug ihm auf, das Wasser des Lebens zu holen. Sie wußte
wohl, mit wie vielen Gefahren und Beschwerden dies verbunden sei, und
hoffte deshalb, daß der Knabe darob zugrunde gehen werde. Der Knabe
war guter Dinge und machte sich gleich auf die Füße, um in
der Ferne das Wasser des Lebens aufzusuchen. Er ging wieder in den Wald
und dort immer weiter gegen Sonnenaufgang. Als er schon eine gute Strecke
gegangen war, begegnete ihm wieder der Fuchs und fragte ihn: "Wohin
gehst du?"
"Ich muß das Wasser des Lebens holen", erwiderte der Knabe,
"denn der Graf ist sterbenskrank."
"Da hast du eine halsbrecherische Arbeit", versetzte der Fuchs.
"Doch sei getrost; wenn du mir folgst, soll es gut enden."
Der Fuchs ging nun voraus, und der Knabe folgte. Drei lange Tage wanderten
sie ohne ein Wörtchen zu reden durch den stockfinsteren Wald. Da
begann sich endlich das Dickicht zu lichten, und sie sahen vor sich einen
Teich. Da sprach der Fuchs: "Dies ist der Teich des Lebenswassers,
daraus mußt du schöpfen. Ein Drache bewacht aber das Wasser,
und diesen müssen wir täuschen. Ich werde ihn necken, bis er
mich verfolgen wird, und dann mußt du, sobald er mir nacheilt, zur
Stelle sein, das Wasser schöpfen und flüchten; denn würde
er dich erreichen, so wärst du ein Kind des Todes."
Der Fuchs ging nun wie verabredet voraus und näherte sich dem Drachen,
der sich am Gestade sonnte. Sobald die wilde Bestie den Fuchs sah, fuhr
sie auf ihn los und verfolgte ihn voll Zorn. Der Knabe schlich sich indessen
zum Teich, füllte sich den Krug schnell mit Wasser und eilte über
Stock und Stein auf der andern Seite davon. Er war noch nicht lange gelaufen,
da kam ihm der Fuchs nach und führte ihn aus dem finsteren Wald.
Wie sie am Ende des Forstes waren, nahm der Fuchs Abschied, sagte jedoch,
daß sie sich bald wiedersehen würden. Der Knabe eilte nun auf
das Schloß, wo der todkranke Graf schon in den letzten Zügen
lag. Er röchelte schon, und seine Augen waren fast gebrochen. Man
gab ihm nun vom Lebenswasser ein - und siehe! Kaum hatte er einen Tropfen
davon auf die Zunge gebracht, so sprang er gesund aus dem Bett und fühlte
sich stärker und besser als jemals zuvor.
Der Graf hatte seitdem den Knaben noch lieber und hütete ihn wie
seinen Augapfel. Das ärgerte die Schwester der verstorbenen Gräfin
noch mehr, und sie beschloß aufs neue, den Knaben zu verderben.
Sie schmeichelte ihm mehr als je, liebkoste ihn und gewann ihn ganz für
sich. Da sprach sie eines Tages zu ihm: "Wenn du mir die schönste
Blume der Welt holtest, würdest du mir die größte Freude
machen, und ich würde dich noch lieber haben als jetzt."
Sie dachte sich aber, wenn ich ihn um die schönste Blume der Welt
schicke, dann weiß Gott, wie weit er gehen wird, und sicherlich
wird er nicht mehr zurückkehren. Der Knabe nahm die Rede der Frau
für bare Münze, griff zu seinem Stock und machte sich auf, die
schönste Blume der Welt zu suchen. Er ging wieder in den dunklen
Wald hinaus, wo der Fuchs schon auf ihn wartete.
"Wohin geht heute dein Weg?" fragte er den Knaben.
Dieser antwortete: "Ich soll die schönste Blume auf der Welt
holen und weiß nicht, wo sie zu finden ist."
"Da hast du keine leichte Aufgabe", versetzte der Fuchs, "denn
sie ist weit weg von hier. Wenn du sie erreichen willst, so mußt
du dich auf mich setzen, denn sonst würdest du vor Mattigkeit erliegen,
ehe du zur Blume kommst."
Der Knabe ließ sich den Rat nicht zweimal geben, schwang sich auf
den Fuchs und ritt so schnell dahin wie auf dem besten Reitpferd. In Eile
ging es über Stock und Stein, Distel und Dorn, und alle Bäume
schienen rückwärts zu laufen.
Nachdem er lange, lange Zeit im Saus fortgeritten war, kamen sie zu einem
großmächtigen Fluß. Da stieg der Knabe ab, hängte
sich wieder dem Fuchs an den Schwanz und schwamm so an das jenseitige
Ufer wie früher. Dann ging es wieder querfeldein, bis man zu einem
zweiten Fluß kam. Da stieg der Knabe wieder ab, hängte sich
dem Fuchs an den Schwanz und schwamm an das jenseitige Ufer. Als sie dort
angekommen waren, ging es wieder querfeldein, bis sie zu einem dritten
Fluß kamen, der viel breiter und tiefer als die zwei früheren
war. Er stieg wieder ab und übersetzte das Wasser wie früher.
Als sie wieder das jenseitige Ufer erreicht hatten, kamen sie zu einem
Baum, der gar hoch und schön war. An ihm hingen drei Blumen, die
in schönster Blüte standen und so schön waren, daß
man sich nichts Schöneres denken kann.
Wie der Knabe ganz geblendet von der Pracht der Blumen dastand und sie
in einem fort angaffte, sprach der Fuchs: "Siehst du, wir sind nun
an der Stelle. An diesem Baum sind die schönsten Blumen der Welt.
Steig nun hinauf und hol dir eine herunter. Nimm aber nicht die größte
und schönste, denn ihre Blätter würden bald abfallen; nimm
auch nicht die kleinste, denn diese würde bald verwelken."
Der Knabe kletterte nun rasch den Baum empor und pflückte die Blume,
die ihm bezeichnet war. Froh stieg er dann vom Baum und trat den Rückweg
an. Das war ein saures Stück Arbeit. Es mußten wieder die drei
großen, breiten Flüsse durchschwommen und der lange beschwerliche
Ritt über Stock und Stein gemacht werden. Der Knabe war aber desungeachtet
guter Laune, denn er brauchte nur die prächtigste Blume anzublicken,
und es lachte ihm das Herz im Leibe. Nachdem er sieben Tage geschwommen
und geritten war, kamen sie endlich an das Ende des Waldes zurück.
Da stieg der Knabe ab, dankte dem guten Tier und nahm von ihm Abschied.
Der Fuchs sprach auch ein Lebewohl, sagte, daß sie sich in kurzer
Zeit wiedersehen würden, und verschwand im Wald.
Der Knabe machte nun hurtige Füße und eilte auf das Schloß,
daß ihm der Schweiß über die Wangen rann. Jubelnd sprang
er zur Frau und brachte ihr die schönste Blume der Welt. Diese hatte
aber keinen kleinen Schrecken, als der Bub heil und gesund zurückkam.
Eine desto größere Freude hatte aber der Graf, als er den so
herzlich geliebten, guten Knaben, den er schon verloren glaubte, wiedersah.
Er herzte und küßte ihn und ließ ihm zu essen und zu
trinken bringen, was der Tisch nur zu tragen vermochte. Als der Knabe
sich gestärkt und ausgeruht hatte, da führte ihn der Graf mit
sich auf sein Zimmer, nahm ihn dann bei der Hand und sprach zu ihm: "Du
bist mein größter Wohltäter, denn du hast mir das Leben
gerettet. Ich will nicht undankbar sein und dir deine Tat gräflich
belohnen. Wenn du mir noch ein Rätsel, das ich dir geben werde, lösen
kannst, so werde ich dich zu meinem Erben einsetzen und deine Schwester
zu meiner Frau machen."
Wie der Phönix, der sich in einem prächtigen Vogelhaus im Zimmer
befand, dies hörte, fing er zu singen an:
"Gib nur dem Sohn das Gut,
Doch heirat nicht dein eignes Blut!"
Der Gesang des Phönix wurde aber nicht beachtet, und der Knabe verlangte
die Aufgabe zu hören. Als der Junge auf seinem Begehren bestand,
sprach der Graf: "Binnen drei Tagen sollst du mir sagen, warum ich
so traurig bin."
Die Frage kam zu unerwartet, und der Knabe wußte sich keinen Rat.
Zwei Tage lang sann er umsonst auf die Lösung dieser Frage und konnte
keine Antwort finden. Als er keinen Rat wußte, erinnerte er sich
an den Fuchs und lief alsbald in den Wald hinaus. Er war noch nicht weit
gegangen, als ihm der Fuchs begegnete. Er grüßte ihn und legte
ihm das Rätsel, das ihm der Graf aufgegeben hatte, vor.
Darauf antwortete der Fuchs: "Sag dem Grafen, ihn mache die Sorge,
daß er seine Frau zu voreilig verurteilt habe, so schwermütig."
Dann nahm er von dem Knaben Abschied, legte die Vorderfüße
auf dessen Schultern, leckte ihm den Mund und bat ihn, recht bald wiederzukommen.
Der Knabe versprach ihm dies hoch und teuer, und dann trabte das Tier
in den Wald zurück.
Der Knabe eilte auch auf das Schloß zurück und lief stracks
zum Grafen. "Kannst du nun dein Rätsel lösen?" forschte
der Graf.
"Ja", antwortete der Knabe. "Die Sorge, daß Ihr die
Frau zu voreilig verurteilt habt, macht Euch so trüb und schwermütig."
Als der Graf dies gehört hatte, fühlte er tief, daß der
Knabe die reinste Wahrheit sagte, und sprach zu ihm: "Du hast recht
und bist ein so kluges Kind, daß man niemand deinesgleichen finden
kann. Du sollst deshalb mein Erbe sein, und deine Schwester will ich als
meine Braut zum Altar führen."
Der Phönix war wieder im Zimmer und hörte diese Worte. Da begann
er wieder zu singen:
"Gib nur dem Sohn das Gut,
Doch heirat nicht dein eignes Blut!"
Wie der Graf dies hörte, war er nicht wenig überrascht, denn
es schien ihm gar absonderlich, daß ein Vogel sprechen könnte.
Er staunte noch lange und fragte endlich den Knaben, wie er zu diesem
Wundervogel gekommen war. Dieser erzählte ihm, wie er auf Befehl
der Schloßfrau den Vogel holen mußte und welche Abenteuer
er auf dieser Fahrt bestanden habe. Da kam dem Grafen dies alles und die
Rede des Vogels so wunderlich vor, daß er auf der Stelle seine Schwägerin
zu sich kommen ließ und ihr den Vorgang mit dem Vogel erzählte.
Als sie die Reime, die der Phönix gesungen hatte, hörte, war
sie sehr betroffen und wurde bald rot wie Glut, bald bleich wie Wachs.
Sie glaubte, ihre Frevel seien verraten, fiel vor dem Grafen auf die Knie
und bekannte ihm alles, was sie verschuldet hatte.
Es schien nun sonnenklar, daß der Knabe und das Mädchen die
Kinder des Grafen waren. Er umarmte seine wiedergefundenen Lieben, drückte
sie an die Brust, küßte und liebkoste sie. Dabei weinte er
so vor Freude, daß eine Träne der anderen folgte.
Nachdem die erste Freude des Wiedersehens vorüber war, ging der Graf
ernst und feierlich auf seine Schwägerin zu und sprach das Todesurteil
über sie aus, das auch alsbald vollstreckt wurde.
Der Graf und seine Kinder lebten nun glücklich beisammen. Da dachte
eines Tages der junge Graf wieder an den Fuchs, dem er all sein Glück
zu verdanken hatte. Er nahm nun Hut und Waffen und ging in den Wald, um
dort seinen Wohltäter aufzusuchen. Er war noch nicht lange gegangen,
als ihm der Fuchs schon entgegenkam, ihm die Hände leckte und recht
freundlich tat. Der Fuchs ging wieder als Wegweiser voraus, und der junge
Graf folgte ihm. Es ging weit, weit in den Wald hinein, bis sie zu einer
schönen Wiese kamen. Da machte der Fuchs plötzlich halt und
sprach mit bittender Stimme: "Ich habe dir schon viel Gutes erwiesen,
nun tue auch mir etwas zum Dank."
Wie der junge Graf dies hörte, war er gleich bereit, alles, sei es
auch noch so schwer, für seinen Wohltäter zu tun, und fragte
ihn, was er wolle.
Da antwortete der Fuchs: "Ich bitte dich bei allem, was dir heilig
ist, schlage mich tot!"
Der Graf war über diese unerwartete Rede betroffen und sprach: "Wie
sollte ich das tun und dich, dem ich alles verdanke, töten können?"
Der Fuchs ließ aber von seinem Begehren nicht ab und bat inständig,
er möchte ihn doch erschlagen. Da konnte der Grafensohn nicht länger
den Bitten widerstehen, nahm sich ein Herz, ergriff in Gottes Namen einen
Prügel und versetzte mit abgewandtem Gesicht dem Tier einen Schlag
auf den Kopf.
Kaum hatte er dies getan, so hörte er einen Freudenschrei, und als
er umsah, erblickte er eine bildschöne Frau vor sich. Sie eilte mit
offenen Armen auf ihn zu, umarmte, küßte und herzte ihn. Wie
er dastand und nicht wußte, wie ihm geschah und er große Augen
darob machte, öffnete sie den Mund und sprach: "Lieber Sohn,
wie sollte ich dir genug meinen Dank und meine Freude ausdrücken
können! Du bist es ja, der mich von der Verwünschung meiner
bösen Schwester befreit hat."
Dem Grafen war nun alles klar, und als er seine erlöste Mutter vor
sich sah, kannte er kein Maß des Glückes mehr, er weinte vor
Freude, und in seinem Herzen schlug und pochte es wie in einer Schmiede.
Nachdem die erste Freude vorüber war, dachten sie erst an die Ihrigen.
Froh eilten sie dann dem Schloß zu, wo sie den Grafen und die Grafentochter
im Garten fanden. Da hättest du die Freude sehen sollen, als der
edle Herr seine totgeglaubte schöne Frau wiedersah und in seine Arme
schloß!
Da gab es nun ein Fest, wie seit Menschengedenken keines gefeiert worden
ist.
Seitdem lebte die Grafenfamilie glücklich beisammen, teilte Freude
und Wohl, bis sie der Tod nach langer, langer Zeit schied.
(mündlich aus Obermiemingen)
Quelle: Ignaz und Joseph Zingerle, Kinder- und Hausmärchen aus Süddeutschland, Regensburg 1854