Der Riese
Unversehens kam einmal ein Hütebub in eine Berghöhle und erblickte
da zu seinem Schrecken einen Mordskerl von einem Riesen. Der saß
an einem Tisch, stützte den schweren Kopf auf die Hand und schnarchte
wie ein Trompeter. Der Bub hatte keinen Schneid, den langen Lümmel
aufzuwecken, und lief Hals über Kopf in das Dorf.
Keuchend erzählte er den Bauern, was er gesehen habe und wie er bei
dem grausigen Anblick erschrocken sei. Die Bauern, die das hörten,
rissen die Mäuler auf wie nicht gescheit, und den meisten flatterte
bei dem bloßen Hören das Herz wie der Schweif eines Lämmleins.
Die zwölf tapfersten aber stellten sich zusammen und beschlossen
hinauszugehen, um dem Riesen den Garaus zu machen. Denn sie dachten sich:
So einen Nachbar zu haben ist doch nicht recht, und wenn er tot wäre,
könnte es auch was tragen. Er wird doch auch was in seiner Höhle
haben. Sie gingen nun alle zwölfe hinaus und schlichen sich in die
Höhle hinein. Sie fanden den Kerl noch im tiefen Schlaf, und neben
ihm sahen sie Schwert und Spieß liegen.
Wie mit einem Griff tappten alle zwölfe nach dem schweren Spieß
und stießen ihn nach einem kräftigen Schwung dem Riesen ganz
durch den Leib. Durch den Stoß geriet er in Bewegung, und die Bauern
glaubten nicht anders, als daß es ihnen jetzt schlimm ergehe, weil
er schon anfange sich zu regen. Sie machten alle rechtsum und liefen mit
solcher Hast in das Dorf, daß einer den andern fast überrannte.
Im Dorf erzählten sie den Leuten, was das für eine gräßliche
Geschichte gewesen sei mit dem Riesen, wie er über sie hergefallen
sei und sie sich nur mit knapper Not gerettet hätten. Da war ein
Schrecken im Dorf, als ob der jüngste Tag käme und alt und jung
und klein und groß mußte sich rüsten, um gegen den Riesen
auszuziehen.
Nach langer Zeit kam es endlich zum Auszug. Mit lautem Herzklopfen wanderte
das ganze Dorf der Höhle zu. Wie sie da ankamen, war freilich von
dem Riesen nichts anderes mehr übrig als die Knochen, mit Staub bedeckt.
Denn die Rüstung hatte so lange gedauert, daß der Leichnam
völlig verfault war.
Aber auch diese wenigen Überbleibsel vom Riesen setzten die Leute
so in Schrecken, daß sie schnell Bäume und Sträucher umhauten
und vor die Höhle schleppten. So verrammelten sie den Eingang, damit
etwa der Riese gewiß nimmer herauskäme.
(mündlich aus dem Oberinntal)
Quelle: Ignaz und Joseph Zingerle, Kinder- und Hausmärchen aus Süddeutschland, Regensburg 1854