Die zwei Schächtelchen
Es waren einmal ein Mädchen und ein Bübchen, die nahmen einander
bei der Hand und gingen in den Wald hinaus, wo sie einen Platz wußten,
der von Erdbeeren dicht überwachsen war. Als sie dort ankamen und
die roten Dingerchen ihnen entgegenlachten, juchzten sie auf vor Freude,
nahmen ihre Körbchen hervor und knieten auf den Boden hin. Sie pflückten,
soviel nur die Hände ertaten 1), und schauten nicht rechts und nicht
links. Als sie beide die Körblein voll hatten, stellten sie sie beiseite
und fingen nach Herzenslust zu essen an. Es war ihnen wie dem Vogel im
Hanf, und sie aßen und aßen, ohne ans Heimgehen zu denken.
Wenn sie aufhören wollten, so sahen sie wieder ein paar schöne
und große Beeren unter den grünen Blättern hervorgucken,
die sie unmöglich stehenlassen konnten. Hatten sie aber wieder angefangen,
so konnten sie nicht sogleich wieder aufhören.
Als es aber anfing, dunkel zu werden und im Dorf Ave-Maria zu läuten,
da sagten sie zueinander: "Jetzt müssen wir doch heimgehen,
sonst übernachten wir hier." Sie nahmen ihre Körblein vom
Boden, reichten sich die Hand und gingen heimwärts. Unterwegs kamen
sie zu einem vermoderten Stock, darauf saß ein altes, zaggeltes
2) Bettelmandl, das ausschaute wie die liebe Not. Die Kinder erschraken,
drückten die Händchen fester ineinander und wollten vorbeihuschen.
Das Mandl aber redete sie an und sagte: "Liebe Kinderlen, wollt ihr
mir nicht Läuse suchen?"
Der Knabe schaute das Mandl ganz verwirrt an und entschuldigte sich schleunig:
"Das können wir dir heut' nimmer tun, es fängt schon an
zu nachten, und wir müssen noch heimgehen." Sogleich wandte
er sich wieder weg und wollte mit dem Mädchen fortlaufen.
Der Alte aber fiel schnell ein: "Mädele, du bist gewiß
braver als der Bruder; geh, such du mir etliche Läus' ab." Das
Mädchen machte sich vom Brüderl los, ging zum Alten hin und
suchte ihm Läuse. Als das geschehen war, zog das Mandl zwei Schächtelchen
hervor und gab eines dem Mädchen und eines dem Bübchen, verbot
ihnen aber, die Schächtelchen zu öffnen, bevor sie nicht daheim
wären.
Mädchen und Bübchen gaben sich wieder die Hand und liefen mit
ihren Körbchen und Schächtelchen der Heimat zu. Sie hätten
so gern gewußt, was etwa in den Schächtelchen sei, getrauten
sich aber doch nicht, sie aufzumachen.
Wie sie heimgekommen waren und in die Stube traten, stellten sie sogleich
ihre Körbchen beiseite, und das Mädchen fing an, sein Schächtelchen
vorsichtig aufzumachen. Neugierig schauten beide mit großen Augen
auf die Schachtel - und juchhe! wie freuten sie sich, als der Deckel aufging
und eine ganze Schar Engelein heraushüpfte und in der Stube herumflog.
Die Kinder wollten nicht aufhören zu juchzen und zu lachen und zu
springen und in die Hände zu klatschen.
Aber jetzt dachte sich der Knabe: Ich muß doch mein Schächtelchen
auch aufmachen. Er nahm es und tat vorsichtig den Deckel auf, aber schreiend
warf er Schachtel und Deckel weg, lief der Mutter in die Arme und verbarg
sein Angesicht in ihrer Schürze: Lauter kleine Teufelchen waren aus
dem Schächtelchen geschlüpft und hüpften jetzt in der Stube
umher und machten ihre Sprünge um den weinenden Knaben.
Siehst du, böser Bub, da hast du's! Warum hast du dem Alten nicht
getan, worum er dich gebettelt hat!
1) ertun: tun können, zuwege bringen
2) zaggelt: zerlumpt
(mündlich aus dem Ötztal)
Quelle: Ignaz und Joseph Zingerle, Kinder- und Hausmärchen aus Süddeutschland, Regensburg 1854