Der Schafhirt
Ich weiß nicht, wie lange es etwa her ist, da lebten einmal ein
Herr und eine Frau, die ein einziges Kind hatten. Dies war ein frischer
Bursche, dem das Stillsitzen nicht taugen wollte. Schon in früher
Jugend bat er seine Eltern, sie möchten ihm doch erlauben, in die
Welt hinauszuziehen und sein Glück zu versuchen.
"Nein", sprach der Vater, "bevor du nicht sechzehn Jahre
alt bist, darfst du nicht fort, aber dann kannst du ziehen, wohin es dich
gelüstet."
Der Sohn mußte sich fügen und wartete ungeduldig die Zeit ab,
bis sein sechzehntes Lebensjahr verstrichen war. Er zählte die Tage
und Stunden und richtete sich einstweilen alles zur Reise zurecht. Als
er das sechzehnte Jahr vollendet hatte, nahm er Abschied von den Eltern,
setzte sich auf sein Pferd und ritt wohlgemut von dannen. Ohne Ziel und
Plan ging es so fort in die weite Welt hinein, und je länger er ritt,
desto besser wollte es ihm gefallen.
Eines Tages führte ihn der Weg durch einen stockfinsteren Wald. Wie
er so gedankenlos dahinritt, drang auf einmal der herrlichste Gesang an
sein Ohr, so daß er stillhielt und eine Zeitlang den lieblichen
Tönen lauschte. Er beschloß den Sänger aufzusuchen und
ritt dem Ort zu, von dem der Gesang zu kommen schien. Er war nicht lange
geritten, da öffnete sich der Wald, und vor ihm lag eine schöne,
große Wiese, auf der ein Hirtenknabe seine Schafe hütete. Er
nahte sich dem Knaben und redete ihn an: "Möchtest du nicht
tauschen mit mir? Ich gebe dir mein Pferd, und du gibst mir dafür
deine Schafe zu hüten!"
Der Hirt wußte nicht, wie ihm geschah. Er machte eine Zeitlang große
Augen, aber als er merkte, daß es mit dem Handel Ernst sei, schlug
er sogleich ein, hieß den Fremden vom Pferd steigen und übergab
ihm seinen Stab und seine Tasche.
"Siehst du", sagte er, "wenn du ein rechter Hirt sein willst,
so mußt du schon einen tüchtigen Stecken haben, und eine Schale
mit ein paar Brocken ist auch ein gutes Zeug. Aber jetzt laß dir
sagen: Die Schafe, die du zu hüten hast, gehören dem Bauern
da drüben auf dem Hügel. Wenn du abends heimfährst, so
werden die Schafe schon von selbst in den Stall gehen. Du aber gehst in
die Küche und setzt dich auf den Hackstock. Wenn dich die Bäuerin
fragt: 'Hansl, was magst denn?', so sagst du: 'Ein Butterbrot.' Du mußt
aber recht niedergeschlagen tun und ein saures Gesicht machen, dann wird
die Bäuerin fragen: 'Hansl, was fehlt dir denn?' Darauf antwortest
du: 'Mir fehlt sonst nichts.' Dann wird sie schon merken, daß nicht
der Hansl Schafhirt ist, sondern ein anderer. Wenn du aber brav bist,
wird sie schon zufrieden sein mit dir, und du wirst es gut haben."
Nachdem er so geredet hatte, schwang er sich aufs Pferd und ritt auf und
davon.
Der neue Schafhirt saß nun unter seinen Tieren, welche fleißig
am Gras rupften und von Zeit zu Zeit während des Kauens zu ihm aufschauten,
als wollten sie sich besinnen, ob das der Rechte sei. Er ging zu den Schafen
und Lämmlein herum und streichelte und kratzte sie unten am Hals,
was sie recht gern zu leiden schienen. Bald wurde er neugierig, wie es
etwa in der Umgegend aussehe. Er stieg auf einen nahe gelegenen Hügel
und beschaute sich von da aus die ganze Nachbarschaft. Da sah er nicht
weit von sich auf einem Hügel ein großes und prächtiges
Schloß. Es wunderte ihn, wem etwa das große Gebäude gehören
möchte, aber weil er niemanden bei sich hatte, den er fragen konnte,
gab er sich einstweilen zufrieden und stieg wieder zu seinen Schafen hinab.
Es dauerte nimmer lange, so begann es dunkel zu werden, und er trieb seine
Herde dem großen Bauernhaus zu. Die Schafe liefen in ihren Stall,
der Hirt aber ging in die Küche und setzte sich auf den Hackstock.
Die Bäuerin schaute ihn zuerst nicht viel an und setzte gerade jene
Fragen, die ihm der andere Hirte vorausgesagt hatte. Sie erkannte ihn
auch an seinem traurigen Wesen, allein er gefiel ihr sonst nicht übel,
und sie ließ sich den Tausch gerne gefallen. Auch führte sie
ihn zum Bauern und gab ihm allerlei Regeln, nach denen er sich im neuen
Dienst zu verhalten habe.
"Vor allem gib acht", sagte sie, "daß kein Schaf
über den Grenzstein läuft und im Feld unserer Nachbarn grast.
Denn dies sind drei Riesen, die da drüben im Schloß wohnen
und den Leuten solchen Schrecken einjagen, daß unser König
demjenigen sogar seine Tochter versprochen hat, der den dreien den Garaus
macht."
Der Junge war froh, einmal zu wissen, wem dieses prächtige Schloß
gehöre, und versprach auch, den Ermahnungen der Bäuerin treu
zu gehorchen.
Das Schafhüten gefiel ihm gar nicht übel, und der beständige
Aufenthalt unter Gottes freiem Himmel kam ihm lustiger vor als das ewige
Stubenhocken. Er kaufte sich eine Zither und spielte und sang auf der
Wiese, daß die Berge ringsum widerhallten.
Die Riesen im Schloß hörten sein Spiel und seinen Gesang, und
es dauerte nicht lange, bis einer von ihnen aus Neugier zu ihm herüberkam.
Der Kerl war so lang, daß er über alle Bäume hinausreichte,
und der Hirt sah ihn schon von weitem daherkommen. Schnell stieg er auf
den Wipfel eines hohen Baumes und schaute dem Riesen entgegen. Als dieser
nahe kam und ihn fragte, warum er auf dem hohen Baume sitze, sagte er:
"Ich bin heraufgestiegen, damit ich dich anschauen kann."
Der Riese hatte große Freude an dieser Antwort und sagte: "Steig
nur vom Baum herab; ich will jetzt Wein und Brot vom Schloß herüberholen,
und dann werden wir miteinander essen und trinken, singen und spielen."
Als er dies gesagt hatte, drehte er sich um und machte einige große
Schritte gegen das Schloß hin. Der Hirtenknabe fing an, vom Baum
herabzusteigen, allein bis er auf den Boden kam, war auch der Riese schon
wieder zurückgekehrt. Er hatte eine ganze Menge Wein und Brot mitgebracht
und hieß nun den Hirten lustig sein und sich gütlich tun. Der
Hirt hatte aber ein Fläschchen mit einem starken Schlaftrunk bei
sich, und davon goß er unbemerkt einige Tropfen in das Trinkglas
des Riesen.
Sie hatten kaum zu trinken angefangen, da packte den Riesen ein gewaltiger
Schlaf. Er legte sich seiner ganzen Länge nach auf das Gras und fing
an zu schnarchen. Der Hirt wartete nicht lange, nahm ihm sogleich sein
Messer von der Seite, schnitt ihm den Kopf ab und schnitt auch die Zunge
aus dem Kopf heraus. Dann begrub er den Leichnam und ließ sich gar
nicht anmerken, daß etwas geschehen war. Er gab wieder auf seine
Schafe acht und sang und spielte die Zither, daß man es weitum hören
konnte.
Alsbald kam der zweite Riese, tat freundlich mit dem Hirten, setzte sich
zu ihm nieder, packte Brot und Wein aus und lud den Hirten dazu ein. Der
Hirt brachte wieder ein paar Tropfen von seinem Schlaftrunk in das Glas
des Riesen und wartete, bis er einschlief. Dann nahm er ihm das Messer
von der Seite, schnitt ihm den Kopf ab und die Zunge heraus und grub den
Leichnam ein.
Als er damit fertig war, schaute er wieder zu seinen Schafen und sang
und spielte dazu auf der Zither. In kurzer Zeit kam der dritte Riese,
trank, sang und spielte mit dem Hirten, bekam aber auch einen Schlaftrunk
und verlor seinen Kopf. Der Hirt scharrte seinen Leichnam zu den anderen
zwei ein, die drei Zungen aber steckte er zu sich, um sie einmal als Wahrheitsbeweis
brauchen zu können.
Nicht lange Zeit darauf traf es sich, daß ein Förster, der
seiner Arbeit nachging, an diesen Ort kam und die drei Riesenleichname
samt den abgeschnittenen Köpfen fand. Der Förster hatte eine
übergroße Freude, nahm die drei Köpfe und ging alsbald
zu dem König. Er erzählte ihm, daß er den drei Riesen
das Licht ausgeblasen habe, und forderte ihn auf, ihm seine Tochter dem
Versprechen gemäß zur Gemahlin zu geben. Der König wollte
ihm aufs Wort hin nicht glauben, sondern forderte auch Beweise für
seine Behauptung. Der Förster zeigte ihm die drei Köpfe, und
als er diese sah, so war er zufrieden und führte den Förster
der Tochter als ihren Bräutigam vor.
Die Prinzessin aber wollte von dieser Heirat nichts wissen, denn sie konnte
den Förster nicht liebgewinnen, und behauptete steif und fest, ein
anderer und nicht der Förster müsse die Riesen getötet
haben.
Inzwischen kam der Schafhirt an den Hof, zeigte dem König die Zungen
der drei Riesen und erbat sich von ihm seine Tochter zur Frau. Weil er
die Zungen brachte, erkannte man ihn als den eigentlichen Täter,
und die Königstochter wurde mit der größten Freude seine
Gemahlin.
(mündlich aus Kramsach)
Quelle: Ignaz und Joseph Zingerle, Kinder- und Hausmärchen aus Süddeutschland, Regensburg 1854