Stiefmutter
Es waren einmal ein Vater und eine Mutter, die hatten nur ein einziges
Kind, und das war ein feines, herziges Büblein. Aber einmal erkrankte
die Mutter und wurde immer schwächer und schwächer, so daß
sie in wenigen Tagen von dem Büblein und ihrem Mann Abschied nahm
und dann die Augen für immer zuschloß. Dann kamen die Totengräber,
trugen die Mutter fort und taten sie ins Grab hinab, und dem Knaben kam
es jetzt so leer und enterisch 1) vor in dem Haus, daß er sich vor
lauter Sehnsucht und Langeweile oft nicht zu helfen wußte.
Aber bald wurde es schon wieder lauter in dem Haus, und der Knabe hatte
nimmer viel über Langeweile zu klagen. Denn der Vater brachte gar
bald eine Stiefmutter und sagte zu dem Kind: "Siehst du, das ist
jetzt deine Mutter, dieser mußt du jetzt gehorchen wie deiner ersten
Mutter und mußt alles fleißig verrichten, was sie dir aufträgt."
Der Knabe versprach, das zu tun, er hatte aber zu dieser neuen Mutter
kein solches Zutrauen, wie er zur ersten Mutter gehabt hatte, und wenn
er ihr auch brav folgte, so tat er es doch mehr aus Zwang als aus Liebe,
und so kam ihm das Folgen immer viel saurer vor als früher. Die Stiefmutter
konnte auch den Buben gar nicht leiden, und wenn er ihr auch alles tat,
was sie wollte, so war sie doch nicht zufrieden und schimpfte und züchtigte
ihn, als ob er der böseste Bub von der Welt wäre. Sie tat ihm
nichts an, kämmte ihn nicht und wusch ihn nicht, so daß das
Büblein, das früher so nett und sauber gewesen war, bald alle
Leute grausen machte und bei niemandem mehr gern gelitten wurde. Den ganzen
Tag mußte er im Wald draußen eine ganze Schar Schweine hüten,
und dabei bekam er nichts anderes zu essen als morgens vor dem Ausfahren
und abends nach der Heimkehr ein bißchen trockenes Brot.
So hätte er keine Freude gehabt, wenn nicht die Schweine, die er
zu hüten hatte, gut geraten wären. Diese nahmen aber schon so
zu, daß jedermann gemeint hätte, sie wären im Stall gemästet,
nicht aber auf die Weide getrieben worden. Wie das zuging, das verstand
der Knabe selbst nicht. Sooft er mit seiner Herde ausfuhr und ein Stück
in den Wald hineinkam, fingen die Schweine auf einmal an zu laufen und
liefen so schleunig waldein, daß dem Hirten das Nachlaufen verging.
Abends kamen sie auch richtig alle wieder zurück, und man konnte
es ihnen an ihrem Wanst und am Laufen ansehen, daß sie untertags
gute Weide gehabt haben mußten. Der Knabe wunderte sich oft, wo
denn etwa der gute Platz für die Schweine sei, aber zum Nachlaufen
konnte er sich nie entschließen.
Als er einmal so allein im Wald herumstrich und sich auf mancherlei Art
die Zeit zu verkürzen suchte, begegnete ihm ein altes Weibele und
fragte ihn: "Bübl, was tust du denn?"
"Facken hüten."
"Weißt du, wo deine Facken immer hingehen?"
"Das weiß ich nicht. Sie laufen halt allemal fort, wenn sie
ein Stück im Wald sind, und abends kommen sie sattgefressen zurück."
"So geh doch einmal schauen, wo sie ihre Weide haben. Du brauchst
dich nicht zu fürchten, es geschieht dir ganz gewiß nichts."
Der Knabe versprach ihr, einmal nachzulaufen, und die Alte ging wieder
fort.
Am anderen Tag zog er wieder mit seiner Herde in den Wald, aber als die
Schweine anfingen zu laufen, lief er auch mit und lief so stark, daß
er fast die Füße verlor. Als er lange Zeit gelaufen war und
ihm schon der Atem auszugehen begann, da sah er ein Loch im Erdboden,
und in das liefen die Schweine alle zusammen hinein. Da getraute er sich
nimmer nachzulaufen, weil es in dem Loch gar so finster war, daß
ihm schon das Hineinschauen völlig unheimlich vorkam. Er strich wieder
den ganzen Tag in der Nähe des Loches umher und vertrieb sich die
Zeit mit allerlei Kurzweil. Während er so herumtändelte, stand
auf einmal wieder das alte Weibele vor ihm und fragte: "Bist du den
Schweinen heut nachgegangen, und hast du geschaut, wo sie ihre Weide haben?"
"Ja, ich bin ihnen wohl lange Zeit nachgelaufen, aber sie sind dann
in ein stockfinsteres Loch hinein, und da habe ich mich nicht mehr nachgetraut."
"Warum denn nicht nachgetraut? Geh du nur hinein in das Loch, du
wirst sehen, es geschieht dir nichts."
Der Knabe versprach, am anderen Tag hineinzugehen, und die Alte humpelte
wieder fort. Als es Abend war, lief das ganze Rudel Schweine wieder daher,
und der Hirt kehrte sogleich heim.
Am anderen Tag in aller Frühe bekam er wieder sein trockenes Brot
und mußte dann die Schweine hinaustreiben in den Wald. Als er ein
Stück im Gehölz drinnen war, da fingen die Schweine wieder an
zu laufen, und der Hirt lief ihnen nach über Stock und Stein, daß
ihm fast der Atem ausging - und als sie in das Loch hineinschossen, da
überwand er alle Furcht und lief ihnen auch nach. Da war es aber
so finster wie in einem Sack, und er wußte bei keinem Schritt, wo
er hintappte, sondern mußte nur aufs Geratewohl seiner Nase nachlaufen,
so wie es die Schweine auch taten.
Nachdem er eine gute Strecke so gelaufen war, kam es ihm vor, als ob ein
schwacher Lichtstrahl in das Dunkel hereinbräche, und während
er sich darüber zu freuen anfing, wurde es schon wieder ein wenig
heller und dann noch heller - endlich hörte das Loch auf, und er
kam mit seinen Facken auf eine freundliche Lichtung. Die Facken rannten
noch immer aus Leibeskräften darauflos, der Hirt aber ließ
sich jetzt ein bißchen Zeit, weil er sich in der freien Weite doch
weniger fürchtete als in dem stockfinsteren Loch. Er war noch nicht
weit von dem Ausgang der Höhle, da begegneten ihm drei wunderschöne
Jungfrauen und fragten ihn: "Bübl, wohin?"
"Ich gehe nur schauen, wo meine Facken sind. Ich will dann geschwind
wieder hinausgehn."
So sagte das Büblein, weil es sich halt gar so fürchtete vor
den drei fremden Jungfrauen. Diese aber waren freundlich mit ihm, hießen
ihn munter sein und sagten: "Wenn du die Facken sehen willst, so
mußt du noch weit hinausgehen, dann wirst du sie schon finden."
Das Büblein folgte ihnen, hob rüstig die Füße auf
und ging noch eine lange, lange Strecke. Als es sich schon völlig
müde gelaufen hatte, sah es endlich seine Facken, die vergnügt
in drei großmächtigen Haufen wühlten und mit einem solchen
Eifer fraßen, daß sie den Hirten gar nicht gewahr wurden.
Er wunderte sich, woran sie denn so gierig fraßen, und er ging deswegen
noch etwas näher hinzu. Da sah er, daß es drei Kornhaufen waren,
worin sie ihre Rüssel steckten, und es kam ihm nun nicht mehr sonderbar
vor, daß die Tiere in der letzten Zeit so viel Speck angesetzt hatten.
Er dachte sich, da brauche ich nicht viel zu hüten, fressen tun sie
schon selber, und hinausgekommen sind sie auch noch allemal.
Er kehrte also um und ging wieder den gleichen Weg zurück, auf dem
er gekommen war. Da begegneten ihm wieder die drei Jungfrauen und sagten:
"Bist du bei den Facken gewesen?"
"Jetzt hab' ich sie wohl gesehen", sagte das Büblein voll
Freude, "sie sind da draußen und fressen Korn."
"Siehst du", erwiderten die Jungfrauen, "all das Korn ist
für deine Facken. Daran kannst du sie fressen lassen, bis es gar
ist, und wenn sie das alles aufgefressen haben, werden sie schon einen
dicken Speck haben."
Das Büblein dankte dafür und wollte weitergehen. Die Jungfrauen
aber sagten: "Jetzt bleibe da, bis es Abend wird, und dann läufst
du selbst mit deinen Tieren zum Loch hinaus und der Heimat zu."
Der Knabe ließ sich die Einladung gerne gefallen und blieb bei den
Jungfrauen. Diese gingen sogleich um Kamm und Seife, kämmten und
reinigten ihn und brachten ihm dann neue Kleider, die er anlegen mußte.
Da schaute das Büblein auf einmal ganz anders aus, und es war ihm
so wohl in den reinlichen Kleidern, daß es vor Freude gar nicht
wußte, wie ihm geschehen war. Jetzt brachten ihm die Jungfrauen
auch zu essen und stellten ihm Schmalznudeln und andere gute Sachen vor,
die er sein Lebtag nicht gekostet hatte. Das Büblein aß mit
großem Appetit und dankte in einem fort unserem Herrn und den Jungfrauen.
Diese schauten ihm zu, redeten freundlich mit ihm und munterten ihn von
Zeit zu Zeit auf, tapfer dreinzuschlagen.
Als er den Löffel fortgelegt und unserem Herrn noch einmal für
die gute Speise gedankt hatte, hießen ihn die Jungfrauen noch bleiben
und sagten zu ihm: "Jetzt, weil wir deine Facken verköstigen
und du bei uns Kleider und Essen gekriegt hast, mußt du uns auch
etwas versprechen, was du leicht halten kannst. Du darfst keinem Menschen
etwas sagen, wohin du deine Facken auf die Weide treibst oder wo du selbst
Gewand und Speise bekommst. Hörst du? Aber wenn du uns das versprichst
und dein Versprechen hältst, darfst du mit deinen Tieren immer zu
uns hereinkommen und wirst immer so gut aufgenommen werden wie heute."
Dem Knaben fiel es gar nicht ein, sich zu besinnen, und sogleich versprach
er ihnen hoch und teuer, keinem Menschen von ihrer verborgenen Wohnung
etwas zu sagen.
Als die Sonne anfing, hinter die Berge hinabzukriechen, kamen die Facken
des Weges daher, und man konnte es ihnen an Gang und Bauch wohl ansehen,
daß sie am Fressen keinen Mangel gehabt hatten. Der Knabe nahm dankend
Abschied von den drei Jungfrauen und versprach, am anderen Tag wiederzukommen.
Dann hob er seinen Stecken auf, gab den hintersten von den Facken einen
leichten Schlag und rannte nun, so schnell es gehen wollte, zum Loch hinaus
und der Heimat zu.
Als er daheim ankam, tat er zuerst die Facken in den Stall und ging dann
in die Küche hinauf zur Stiefmutter. Als diese den sauberen Jungen
sah, schaute sie ihn zuerst von oben bis unten an, ob es wohl ihr Bub
sei, und als sie sich überzeugt hatte, daß es doch kein anderer
war, wurde sie brennrot vor Zorn, weil sie ihm das hübsche, reinliche
Aussehen und das saubere neue Kleid nicht vergönnen wollte. Sie schimpfte
eine Weile zu, ohne ihn zu Wort kommen zu lassen, und erst als sie ihr
Maul tüchtig ausgeleert hatte, fragte sie ihn: "Jetzt sag mir
aber, wer hat dir das saubere Kleid angelegt?"
"Das habe ich mir selbst angelegt", erwiderte der Knabe.
Da ging das Schelten des bösen Weibes von neuem an, und sie wollte
mit aller Gewalt aus dem Knaben herausbringen, woher es denn komme, daß
er heute so schön und sauber sei. Der Knabe aber gab ihr stets ausweichende
Antworten und ließ sie schelten, soviel sie wollte, sagte aber von
den drei Jungfrauen und ihrem geheimen Aufenthalt kein einziges Wörtchen.
Als es Schlafenszeit war, hörte der Lärm endlich auf, und der
Knabe legte sich vergnügt in sein schlechtes Bettchen. Er dachte
und träumte die ganze Nacht von dem glücklichen Aufenthalt,
den er gestern angetroffen hatte, und konnte kaum den Morgen erwarten,
um mit seiner Herde wieder dahin zu ziehen.
Kaum fing es an zu dämmern, sprang er schon aus dem Bett, legte sich
vergnügt die sauberen Kleider an, trieb dann die Schweine aus dem
Stall und zog singend und pfeifend mit der grunzenden Herde dem Wald zu.
Die Schweine brauchte er nicht viel zu treiben, weil sie das gute Futter
wußten, und so kam er bald bei dem Loch an. Die Facken rannten ungeheißen
darauf los und, wie der Wind, alle zusammen hinein. Der Knabe lief ihnen
nicht nach, weil er wußte, wohin sie rannten, sondern er ging allein
hinten nach.
Als er durch das Loch gegangen war, begegnete er wieder den drei Jungfrauen,
die ihn freundlich grüßten und einluden, den Tag über
bei ihnen zu bleiben. Er blieb gerne da und hatte wieder so gute Zeiten
wie gestern. Schmalznudeln und andere gute Kost bekam er in Hülle
und Fülle und hatte sich nichts zu wünschen, als daß er
abends nicht wieder zur bösen Stiefmutter heimkehren müßte.
Als aber die Sonne unterging, kamen die Facken, und er mußte wieder
heimgehen und sich das Schimpfen und Lästern der Mutter anhören.
So ging es lange Zeit fort. Der Knabe rannte alle Tage durch das Loch
zu den drei Jungfrauen und hatte dort ein Leben, daß er sich's nicht
besser hätte wünschen können. Sie schenkten ihm immer mehr
und schönere Sachen, und als er zu einem Jüngling herangewachsen
war, konnte er sich mit den schönen Kleidern, die er von den Jungfrauen
bekam, vor seinen Altersgenossen herausputzen. Abends aber mußte
er sich immer das Schelten und Fragen der Stiefmutter anhören und
hatte genug zu tun, um allemal einen Ausweg zu finden, damit er von den
Jungfrauen und ihrem Aufenthalt nichts zu sagen brauchte.
Eines Tages, als er wieder mit den drei Jungfrauen herumging und sich
von ihnen bewirten ließ, führten sie ihn zu drei großen
Geldhaufen und sagten: "Schau, einen von diesen Haufen kannst du
dir leicht erwerben, wenn du so fortfährst, wie du bisher getan hast.
Wir alle drei sind verwunschen, und es dauert nur noch zehn Jahre, bis
wir erlöst werden können. Bist du diese zehn Jahre hindurch
fein still und sagst keinem Menschen etwas von uns und unserem Aufenthalt,
so sind wir erlöst, und von diesen drei Geldhaufen gehört einer
dir, einen gibst du der Kirche und den dritten verteilst du unter den
Armen."
Der Knabe, weil er sich über seine verwunschenen Wohltäterinnen
erbarmte und ihm das Geld auch ein bißchen in die Augen stach, gab
ihnen sein Wort, er wolle sich schon zusammennehmen, wie er es bisher
getan hatte, und keinem Menschen ein Wörtchen von ihnen sagen.
Von nun an gaben ihm die Jungfrauen nicht nur Essen und Kleider, sondern
auch Geld, so daß er der Stiefmutter oft mit einem Silberstück
aushelfen konnte. Diese aber hatte nur einen neuen Zorn, als sie sah,
daß der Bub, den sie nicht leiden konnte, auch Geld in der Tasche
hatte, und sie schimpfte ihn jetzt nur desto ärger. Sie hielt ihm
vor, er habe es gestohlen, und drohte, ihn vor Gericht anzuzeigen, wenn
er nicht bekenne, woher er es habe. Der Junge aber wußte sich jedesmal
herauszureden, ohne daß er von den Jungfrauen etwas sagte.
Die Stiefmutter bekam endlich einen solchen Zorn auf ihn, daß sie
wirklich bei Gericht angab, ihr Stiefsohn betreibe das Schelmhandwerk.
Da kam der Gerichtsdiener, faßte ihn und führte ihn vor Gericht.
Da forderte ihn der Richter auf zu bekennen, woher er das viele Geld bekomme,
wenn er es nicht stehle. Er brachte allerlei Ausreden vor, der Richter
aber war damit nicht zufrieden und sagte, wenn er es nicht bekennen wolle,
so werde für ihn schon ein Loch im Turm oder beim Seiler ein Stricklein
zu finden sein. Da wurde er verzagt und erzählte, daß er das
Geld von den verwunschenen Jungfrauen habe, zu denen er im Wald draußen
durch eine Höhle gelangt war. Hiermit waren Stiefmutter und Richter
zufrieden, und er konnte wieder frei seine Wege gehen.
Am anderen Tag trieb er wieder seine Herde hinaus in den Wald. Die Facken
rannten dem Loch zu, und er selbst lief ihnen eilig nach. Allein das Loch
war verschlossen, und weder er noch die Facken konnten hineinkommen. Drinnen
hörte er aber oft, wenn er in dieser Gegend hütete, ein bitteres
Seufzen und Weinen. Da kam ihm allemal die Reue, daß er sich hatte
abschrecken lassen, die drei Jungfrauen zu erlösen.
1) enterisch: unheimlich
(mündlich bei Meran)
Quelle: Ignaz und Joseph Zingerle, Kinder- und Hausmärchen aus Süddeutschland, Regensburg 1854