Der Stinkkäfer
Vor langer, langer Zeit lebte ein armer Knabe, der eine böse Stiefmutter
hatte. Sie war ihm so feindlich gesinnt, daß er ihr nichts recht
machen konnte und alle Tage Scheltworte und Schläge bekam. Einmal
gab sie dem guten, armen Kind einen großen Korb und sprach: "Mach
dich, kleiner Darm, gleich in den Wald hinaus und suche Moosbeeren, und
bringst du den Korb nicht voll zurück, so sollst du Schläge
bekommen, daß dir die Rippen krachen."
Der arme Bursche nahm den Korb und lief mit weinenden Augen in den grünen
Wald hinaus, denn er sah wohl, daß er, wenn er zehn Hände statt
einer hätte, so viele Moosbeeren nicht pflücken könnte,
und fürchtete sich vor den gedrohten Schlägen gar sehr. Im Wald
kroch er von einer Staude zur andern und pflückte nach Leibeskräften.
Allein er sah nur immer deutlicher, daß er den Korb nicht werde
voll machen können. Er hatte schon einige Stunden gearbeitet, und
die Sonne brannte gar heiß nieder. Da fing der Knabe an schläfrig
zu werden vor lauter Hunger und Müdigkeit. Er sank ermattet in das
Moos und begann zu schlafen, daß es eine Lust war. Die Sonne wollte
schon Abschied nehmen, als der Knabe seine Augen aufschlug und mit Schrecken
sah, daß es schon Abend war. Um wieviel größer war aber
sein Schrecken, als ein winziges Männlein in einem grünen Röcklein
vor ihm stand und ihm mit seinen kleinen, stechenden Augen fest und steif
ins Gesicht schaute. Als der Zwerg den Knaben so erschrocken sah, redete
er ihm freundlich zu und fragte ihn, was er hier mache.
"Ja, ich muß hier Moosbeeren pflücken, den ganzen Korb
voll", erwiderte stotternd der Knabe, "und wenn er nicht voll
wird, bekomme ich Schläge, denn die Mutter ist gar so streng zu mir."
"Sei getröstet", sprach das Männlein und fing an,
Moosbeeren zu pflücken, daß der Korb im Augenblick voll war.
Dann gab er dem Knaben ein Schächtelchen mit den Worten: "Du
bist ein braver Bub; bleibe so, und es soll dir nichts Übles zustoßen.
Nimm das Schächtelchen, doch öffne es erst in der größten
Not, wenn du sonst keinen Ausweg mehr siehst, und es wird dir geholfen
werden."
Der Knabe versprach es dem alten Männlein, griff freudig nach dem
Schächtelchen und dankte dafür, wie brave Kinder es tun. Kaum
war dies geschehen, so war das Waldmännlein auch verschwunden. Der
arme Bursche steckte das Schächtelchen behutsam ein, nahm den vollen
Korb auf den Rücken und wanderte froher als je seiner väterlichen
Hütte zu, denn er hatte ja einen Helfer in seiner Tasche. Als er
müde und vom Schweiß triefend heimkam, stand seine böse
Stiefmutter schon auf der Türschwelle und wollte ihn mit Scheltworten
empfangen. Wie sie aber den vollen Korb sah, bekam sie Respekt vor dem
Buben und machte ein süßes Gesicht. Seit diesem Tage quälte
sie den Knaben nicht mehr so sehr und gab ihm oft freundliche Worte. In
der Tat haßte sie das arme Kind doch wie früher und wartete
nur auf eine günstige Gelegenheit, ihn loszuwerden. Der Knabe hatte
nun glückliche Tage und sah wohl oft, wenn er allein war, das Schächtelchen
an, öffnete es aber nie, denn er hatte es ja dem Männchen versprochen,
und Hilfe war ihm auch gerade nicht nötig. So ging es einige Wochen.
Da kam einmal ein unbekannter Mann ins Dorf, und dieser hatte ein wunderliches
Pfeiflein. Wenn er damit pfiff, mußten ihm alle Kinder, die nicht
gesegnet waren, nachlaufen, und niemand konnte sie mehr von dem geheimnisvollen
Pfeifer befreien. Wie der Hansl das Pfeiflein hörte, schoß
es ihm auch in die Füße, daß er mitlaufen mußte,
denn die böse Mutter hatte ihn absichtlich nie gesegnet. Der Mann
ging pfeifend voraus, ein großer, großer Haufen ungesegneter
Kinder folgte ihm. Der Zug ging durch das Dorf dem Wald zu, wo ein kahler,
grauer Berg aufragte. Als sie dort angekommen waren, tat der Mann einen
lauten Pfiff, und der hohle Berg öffnete sich. Die armen Kinder mußten
in den finsteren Schacht hinein, und hinter ihnen schloß sich polternd
die Öffnung des Felsens.
Da hättest du die armen Kinder sehen sollen! Von aller Welt verlassen
befanden sie sich im stockfinsteren Berggewölbe, wohin nie ein Sonnenstrahl
drang, und wußten nicht, was mit ihnen geschehen würde. Sie
weinten und jammerten, daß es ein steinernes Herz hätte rühren
mögen; doch alles war umsonst.
So ging es drei Tage und drei Nächte, und Hansl weinte und klagte
mit den übrigen Kindern. Am vierten Tag fiel ihm endlich ein, daß
er ja das Schächtelchen noch ungeöffnet bei sich habe und daß
ihm dieses vielleicht helfen könnte.
Gedacht, getan! Mit der größten Vorsicht nahm er das Geschenk
des Zwergleins aus seinem Sack und öffnete es behutsam. Wie fühlte
er sich aber in seinen Erwartungen getäuscht, als er bemerkte, daß
ein ganz gewöhnlicher Stinkkäfer daraus hervorkroch, der endlich
summend und brummend aufflog und bald da, bald dort surrend anprallte.
So war er längere Zeit herumgesurrt, als er sich auf den Boden niederließ,
die Erde aufwühlte und endlich ein kleines, kleines Schlüsselein
fand, das er dem Hansl brachte. Dieser war darüber nicht wenig erfreut,
nahm das Schlüsselchen und tastete an allen Ecken und Wänden
herum, um ein Schlüsselloch zu finden. Er hatte wohl schon lange
herumgesucht, als er endlich ein kleinwinziges Schlößlein fand,
in das der Schlüssel gerade paßte. Er steckte ihn an, drehte
ihn herum, und es sprang eine bisher nicht bemerkte Pforte auf. Welche
Freude hatten da die armen Kinder, als das goldene Tageslicht in den hohlen
Berg fiel und sie einen Ausgang sahen. Froh und munter eilten sie der
Tür zu und ins Freie.
Da war aber eine ihnen ganz unbekannte Gegend, die sich durch Schönheit
und Anmut auszeichnete, fette Wiesen und kühle Wäldchen mit
riesigen Eichen und Buchen, und zwischendurch rieselten und murmelten
spiegelklare Bächlein. Die schönsten Blumen hoben ihre bunten,
duftenden Kelche empor, und die prachtvollsten Schmetterlinge flatterten
durch die laue, würzige Luft. Die Kinder kannten nun kein Ende der
Freude, und das eine lief dahin, das andere dorthin.
Hansl, der seinen Stinkkäfer wieder in das Schächtelchen gesteckt
hatte, ging allein auf einem Steig, der sich durch ein Wäldchen schlängelte,
fort und dachte nach, was er nun anfangen sollte, denn er hatte wenig
Lust, wieder nach Hause zurückzukehren.
Als er eine gute Strecke gegangen war, sah er plötzlich ein großes,
prächtiges Schloß vor sich stehen. Es ragte mit seinen Türmen
und Zinnen hoch über die riesigen Bäume empor, die es umgaben.
Um das Gebäude zog sich ein herrlicher Garten mit grünen, stolzen
Bäumen, leuchtenden Blumen und rauschenden Springbrunnen. Hansl konnte
sich lange nicht an all dieser Pracht und Herrlichkeit satt sehen. Als
er alles lange Zeit angegafft hatte, dachte er sich, ich muß doch
schauen, wie es drinnen ausschaut. Er suchte nun einen Eingang, aber all
sein Suchen war vergebens, denn nirgends fand er eine Tür oder ein
Gitter. Er ging noch einmal um das Schloß herum und konnte gar nicht
begreifen, wie man ein Haus ohne Aus- und Eingang bauen konnte. Wie er
so dastand und schaute, hörte er plötzlich eine Stimme rufen:
"Wenn du den Schlüssel findest, gehören dir Schloß
und Hof."
Da war der Junge nicht verlegen und nahm zu seinem Schächtelchen
Zuflucht. Der Käfer wurde losgelassen, und das kluge Tierlein flog
und surrte herum, bis es sich endlich auf dem Boden niederließ,
die Erde aufgrub und dort einen goldenen Schlüssel fand. Hansl war
über diesen Fund nicht wenig erfreut und suchte nun am Turm hin und
her, bis er das Schlüsselloch sah. Da steckte er lustig den Schlüssel
an, drehte ihn herum, und im Nu war das Tor offen. Da hättest du
dabeisein und all die Pracht und Herrlichkeit im Schloß sehen sollen.
Und da gab's einen Jubel und eine Freude, daß dem Hansl Sehen und
Hören verging.
Als er so dastand und vor Staunen nicht zu sich kommen konnte, kam ein
alter König auf ihn zu, und dieser führte eine wunderschöne
Prinzessin an seiner Hand. Der alte König umarmte den Hansl und dankte
ihm für seine Erlösung und die Erlösung seiner Tochter
und seiner Leute. Dann bot er ihm seine Tochter zur Frau und das reiche
Königreich zur Erbschaft an. Da besann sich Hansl nicht lange, ging
darauf ein, und es wurde noch am selben Tag Hochzeit gehalten. Der König
aber war kein anderer als der Stinkkäfer, in den er von einer bösen
Hexe verwandelt worden war.
(mündlich aus Absam)
Quelle: Ignaz und Joseph Zingerle, Kinder- und Hausmärchen aus Süddeutschland, Regensburg 1854