Der gehende Wagen
Es lebte einmal in einer großen, schönen Stadt ein reicher
Mann mit einer Tochter, die er sehr liebte. Alles, was sie nur wünschte,
gewährte er ihr; nie hatte sie von ihm oder von den Dienstboten eine
abschlägige Antwort erhalten.
Wie sie größer geworden und zu einer schönen Jungfrau
herangewachsen war, bat sie der Vater, sie sollte sich doch aus den ersten
Häusern der Stadt einen Jüngling zum Mann wählen. Sie aber
wollte das nicht. Da aber der Vater mit seinen Bitten nicht nachließ,
erklärte sie endlich, daß sie dazu bereit sei, aber nur unter
Bedingungen: Sie müßte einen Wagen erhalten, der nur von ihr
geleitet sich vorwärts bewege, dann vier Kleider, ein himmelblaues,
mit goldenen Sternen besätes, ein silbergewirktes und ein golddurchwirktes
und eins, das aus den Bälgen der Feldmäuse gefertigt ist; und
alle verlangten Sachen müßten in drei Tagen fertig sein.
Wie der Vater die Forderungen seiner Tochter hörte, war er sehr bestürzt;
doch er durfte ihr diese nicht abschlagen, um sie nicht zu betrüben.
Er ließ deshalb die besten Schmiede der Stadt kommen und bat sie,
innerhalb von drei Tagen einen Wagen anzufertigen, wie ihn die Tochter
verlangte; ebenso wurden die kostbarsten Stoffe zu den drei Kleidern gekauft
und zum vierten alle Mausfänger aufgeboten, um an Mäusebälgen
keinen Mangel zu leiden.
Am dritten Tag waren auch wirklich zur größten Freude des Vaters
die Wünsche der Tochter erfüllt. Der Wagen hielt vor der Tür,
und auf ihm lagen die vier verlangten Kleider. Die Tochter setzte sich
in den Wagen und wollte sogleich eine Probefahrt machen. Wie sie im Wagen
saß, drehten sich die Räder, und er rollte und rollte unaufhaltsam
fort, und die Tochter kam mit ihren Kleidern in ein ganz unbekanntes,
fremdes Land.
Nicht weit von einer großen Stadt zerbrach der Wagen. Sie stieg
ab und sah sich eine Zeitlang die Gegend an. Sie erblickte eine hohle
Eiche, und in dieser verbarg sie die drei Prachtkleider, das aus Mausfellen
aber zog sie an und ging in die Stadt.
Hier suchte sie vergebens nach einem Unterkommen, denn nirgends wollte
man die Unbekannte im grauen Pelzkleid dulden; nach langem Herumfragen
bekam sie endlich doch bei einem Grafen einen Dienstplatz in der Küche.
Hier mußte nun die schöne Jungfrau in Schmutz und Asche herumkriechen,
die Fußböden fegen, Schüsseln und Teller reinigen und
alle Geschäfte der niedrigsten Küchenmagd verrichten. Die Nacht
schlief sie in einem schlechten Kämmerlein auf halbfaulem Stroh und
hatte nichts darin als einen Stuhl und einen kleinen Kleiderkasten.
Lange Zeit hatte sie schon im Grafenhaus gedient, als der Herr einen großen
Ball gab, der mehrere Tage dauern sollte; eigentlich wollte er sich aber
unter den schönen Jungfrauen der Stadt eine Braut wählen.
Jetzt hatte die Küchenmagd harte Tage; immerfort mußte sie
Wasser tragen, alles säubern und reinigen, Hühner rupfen und
dergleichen mehr. Als alles bereitet war, erschienen die vornehmsten Gäste
aus der Stadt. Da erinnerte sich die verlassene Magd an ihren Vater und
wie sie zu Hause bei solchen Festlichkeiten immer dabeigewesen war, wie
sie getanzt hatte und wegen ihrer Schönheit allen anderen vorgezogen
wurde. Sie bat deshalb die Köchin, hinter der Tür alle beim
Herein- und Herausgehen beobachten zu dürfen. Nach langem Bitten
und nachdem sie ihre Arbeiten verrichtet hatte, wurde es ihr gestattet.
Sie aber ging in ihr Kämmerlein, wusch und putzte sich und eilte
dann zur hohlen Eiche, zog hier das himmelblaue, mit goldenen Sternen
übersäte Kleid an und eilte ins Haus zurück. Alles machte
der schönen Unbekannten ehrerbietig Platz, und sie gelangte unerkannt
und ohne Hindernis in den Saal. Da erstaunten alle, die sie sahen, über
ihr prächtiges Kleid, noch mehr aber über ihre Schönheit;
der Graf war aber ganz überrascht. Er ging ihr entgegen, führte
sie auf den ersten Platz und tanzte nur mit ihr allein.
Nach einer Stunde aber verschwand sie aus dem Saal, eilte nach der hohlen
Eiche, zog die gewöhnliche Kleidung an und erschien dann unbemerkt
hinter der Tür, um zu sehen und zu beobachten, was sie für einen
Eindruck hinterlassen hatte. Die Gäste gingen bald auseinander, denn
der Graf, tief betrübt wegen ihres Verschwindens, hatte für
diesen Tag die Festlichkeit bald beendet und alle auf den folgenden Tag
wieder eingeladen. Alle erschienen auch wieder im schönsten Schmuck
und bemühten sich, den Grafen, der sehr traurig nach der holden Unbekannten
im blauen Kleid herumsuchte, aufzuheitern; aber alle Bemühungen waren
vergebens. Sollte er fröhlich werden, so mußte die so sehnlich
Erwartete erscheinen.
Diese ging auch, nachdem sie alle ihre Arbeiten verrichtet hatte, die
Köchin mit der Bitte an, hinter der Tür alles sehen zu dürfen.
Es wurde ihr gestattet. Sie aber eilte in ihr Kämmerlein, wusch und
putzte sich, eilte zur hohlen Eiche, legte das silberdurchwirkte Kleid
an und eilte ins gräfliche Haus zurück. Wie sie durch die geöffneten
Saaltüren eintrat, eilte ihr der Graf freudetrunken entgegen, führte
sie auf den ersten Platz, sprach und tanzte nur mit ihr allein und war
ganz selig in ihrer Gegenwart. Nach einer Stunde aber verschwand sie aus
dem Saal.
Der Graf hatte jedoch an die Tore treue Wächter gestellt, welche
der Unbekannten nachschleichen sollten. Sie wußte es, weshalb sie
durch ein Hinterpförtchen zur hohlen Eiche eilte, dort die gewöhnliche
Kleidung anzog und dann nach Hause zurückkehrte.
Mit ihr war aber auch alle Freude verschwunden. Der Graf, von ihrer Schönheit
bezaubert und wegen ihres Verschwindens ganz untröstlich, entließ
die Gäste bald, nachdem er sie alle auf den folgenden Abend wieder
eingeladen hatte; denn er hoffte, daß die Unbekannte, wenn sie wieder
erscheinen sollte, am Entweichen durch Umringung des Hauses verhindert
werden könnte.
Wie er gehofft hatte, so geschah es auch. Die Magd eilte am folgenden
Abend nach erhaltener Erlaubnis zur Eiche, zog dort das golddurchwirkte
Kleid an und ging ins Schloß zurück. So schön wie diesmal
war sie noch nie gewesen. Der Graf empfing sie mit Jubel und Freude; er
sprach und tanzte nur mit ihr; für alles andere war er taub und blind.
Doch wie die Stunde um war, wollte sie auch wieder zur hohlen Eiche entfliehen.
Aber es war nicht möglich, denn das ganze Haus war mit Dienern umringt.
Sie schlüpfte deshalb in ihr Kämmerlein, zog das kostbare Kleid
aus und wollte es verbergen. Ein Diener hatte aber die Unbekannte in die
Kammer der Küchenmagd entfliehen gesehen. Dies hinterbrachte er gleich
dem Herrn. Als dieser hörte, daß die Unbekannte in die Kammer
der Küchenmagd entflohen war, ließ er die Tür sogleich
öffnen, und hier fand er seine Küchenmagd, wie sie eben im Begriffe
war, das Kleid im Kasten zu verbergen. Er fiel ihr sogleich um den Hals
und bat sie dann, das Kleid wieder anzuziehen und mit ihm in den Saal
zurückzukehren.
Wie er mit ihr dort erschien und sie vor allen seine Braut nannte, da
gab es Jubel und Freude, und gleich am anderen Tag wurde Hochzeit gehalten.
Beide aber lebten froh und glücklich recht viele Jahre im Kreis schöner
Kinder und Enkel.
(mündlich aus dem Zillertal)
Quelle: Ignaz und Joseph Zingerle, Kinder- und Hausmärchen aus Süddeutschland, Regensburg 1854