Die schöne Wirtstochter
Es war einmal eine schöne Wirtin, die hatte eine Tochter, die noch
weit schöner war als sie selber. Die Wirtin war aber ein überaus
eitles Ding, und es jagte ihr allemal die Galle auf, sooft sie von den
Gästen zu verstehen bekam, daß das Wirtstöchterlein den
Leuten weit besser gefalle als die Frau Mutter. Schließlich wurde
sie so eifersüchtig, daß sie ihren Knechten den Auftrag gab,
die Tochter in den Wald hinauszuführen und ums Leben zu bringen.
Als Beweis verlangte sie Hände, Füße und Zunge des armen
Mädchens.
Die Knechte schickten sich an, diesen Auftrag zu vollziehen, und schleppten
die Wirtstochter hinaus in den finsteren Wald. Hier fiel das Mädchen
auf die Knie nieder, hob seine schneeweißen Hände auf und bat
die rauhen Knechte, ihr wenigstens die Zunge zu lassen, damit es in seinem
Elend doch zu Gott beten könne. Im übrigen sollten sie dem Befehl
der Mutter nur nachkommen und ihm Hände und Füße abhacken.
Die Knechte wurden durch die Bitten des unschuldigen Mädchens gerührt,
hackten ihm bloß Hände und Füße ab, ließen
ihm aber die Zunge, um damit zu Gott zu beten. Auf dem Heimweg packten
sie einen Hund, dem sie die Zunge ausrissen, um sie statt der Zunge des
Mädchens als Beweis nach Hause zu bringen.
Die Wirtstochter blieb in dem Wald und wurde von ihrer bösen Mutter
für tot gehalten. Sie führte da ein elendes, mühseliges
Leben und hätte gar keine Freude gehabt, wenn sie nicht ihre Zunge
hätte zum Gebet rühren können. Eines Tages kam sie zu einem
königlichen Obstgarten, der ganz angefüllt war von Fruchtbäumen
mancherlei Art. An der Ringmauer des Gartens entdeckte sie ein Loch, durch
das Wasser herausfloß. Weil sie der Hunger gar so sehr plagte, so
schlüpfte sie bei Nacht durch diese Öffnung hinein und labte
sich an einigen Früchten. Dem König kam es bald zu Ohren, daß
im Garten Früchte weggekommen waren. Er stellte daher eine Wache
auf und gab ihr den strengsten Befehl, den kecken Dieb abzufangen.
Als die Wache im Garten stand und auf jedes Säuseln und Rauschen
der Blätter achtgab, ließ sich immer und immer nichts sehen,
bis es späte Nacht war. Da kam endlich etwas bei einem Loch hereingekrochen,
das schien weder Hände noch Füße zu haben und doch sonst
einem Menschen zu gleichen. Es rutschte auf seinen Knien zu einem Baum
hin und aß ein paar Äpfel. Die Wache getraute sich nicht, das
seltsame Wesen anzureden, weil sie sich vor diesem Geschöpf fürchtete,
von dem sie nicht wußte, ob es ein Tier oder ein Mensch sei. Des
anderen Tags aber meldeten sie dem König, was im Garten vorgegangen
war, und erzählten, daß es sich in der Nacht nicht ausnehmen
ließe, was denn der Dieb für ein spaßiges Wesen sei.
Als der König sah, daß seine Wache nichts ausgerichtet hatte,
ging er in der folgenden Nacht selbst in den Garten, nahm ein geladenes
Gewehr mit sich und wartete auf den Dieb. In später Nacht kam endlich
etwas herbeigekrochen und näherte sich einem Baum. Der König
wollte schießen - allein wie er eben im Begriff war, loszudrücken,
sah er, daß dieser sonderbare Dieb doch mehr Ähnlichkeit habe
mit einem Menschen als mit einem Tier. Er faßte sich ein Herz und
redete das unbekannte Wesen an. Auf seine Fragen: "Wer und woher
bist du und was machst du da?", erhob das Mädchen erschrocken
seine Stimme. Und als einmal der Schrecken vorbei war, erzählte es
aufrichtig, wie es ihm ergangen war, daß ihm die eifersüchtige
Mutter habe Hände und Füße abhacken lassen und daß
nur die mitleidigen Knechte ihm das Leben und die Zunge gelassen hätten.
Der König war nicht wenig verwundert bei dieser Erzählung, sein
Herz wurde gerührt, und er nahm das Mädchen zu sich in das Schloß.
Da er sah, daß es gar so schön sei, ließ er ihm silberne
Hände und Füße machen und tat ihr überhaupt alles,
was er ihm nur an den Augen ansah. Sooft er es anschaute, gewann er es
lieber, und es dauerte nicht lange, da dachte er sich: Diese und keine
andere muß meine Frau werden.
Nach kurzen Zubereitungen wurde die Hochzeit mit aller Pracht gefeiert,
und König und Königin lebten in Eintracht und Liebe beieinander.
Es dauerte aber nicht lange, da mußte der König Abschied nehmen
von seiner Frau und in den Krieg ziehen. Während er im Felde war,
bekam die Frau Königin zwei Kindlein. Beide waren Knaben, und jeder
war so schön, daß man ihn nicht genug anschauen konnte. Wie
sehr sich die Königin gefreut hat über die zwei Prinzen und
wie gern sie sie gehabt hat, das ist gar nicht zu sagen.
Allein es lebte noch die Mutter des Königs, und diese konnte die
junge Königin nicht leiden, weil sie von niederem Herkommen war und
nicht von königlichem Geblüt. Sie hatte immer daran gedacht,
ihrer Schwiegertochter ein bitteres Leid anzutun und sie vom königlichen
Hof zu entfernen. Als nun die Königin die Kindlein bekommen hatte,
gab die Alte Befehl, die zwei Prinzen sollten ihr auf den Rücken
gebunden und sie selbst aus der Gegend fortgeschafft werden.
Alsogleich taten die Knechte der bösen Schwiegermutter, wie ihnen
befohlen war, und banden der armen Königin ihre zwei Kindlein auf
den Rücken. So wurde sie aus der Gegend hinausgetrieben, und weil
sie auf ihren silbernen Füßen nicht gehen konnte, so mußte
sie auf allen vieren fortkrabbeln. Sie kam hinaus in einen finsteren Wald
und kroch da durch das Gesträuch fort, bis sie zu einem Gewässer
gelangte. Hier rastete sie und wusch die Windeln für ihre zwei Kleinen.
Während sie damit beschäftigt war, kamen zwei Fremde zu ihr
heran, sahen ihr zu und fingen mit ihr zu reden an. Sie hatten Erbarmen
mit der unglücklichen Frau, weil sie da eine Arbeit tun mußte,
zu der die silbernen Hände und Füße nicht recht tauglich
waren. Auch fragten sie, ob die zwei Kleinen schon getauft seien.
"Nein", antwortete die Frau.
"Nun, so sollen sie jetzt getauft werden", sagten die zwei,
machten Anstalten zur Taufe und wurden selbst die Paten der zwei Kinder.
Das eine bekam bei der Taufe den Namen Peter, das andere den Namen Paul.
Bevor die zwei Fremden Abschied nahmen, sagte der eine zum andern: "Was
geben wir der Frau für ein Patengeschenk?"
"Ich gebe ihr gesunde Hände", antwortete der Gefragte.
"Dann geb' ich ihr gesunde Füße", sagte der andere.
Alsbald hatte die Königin gesunde Hände und Füße
und konnte gehen und arbeiten wie andere Leute. Die beiden Fremden hießen
sie jetzt ihre Kinder nehmen und ihnen folgen und führten sie ein
Stück durch den Wald, bis sie zu einem schönen, blauen See gelangten.
In der Mitte des Sees stand ein nettes Häuschen, und an dem Ufer
war ein kleines Boot angebunden.
"Siehst du", sagten die Fremden, "dieses Haus sollst du
bewohnen, und auf dem Schifflein, das hier am Ufer hängt, kannst
du zu dem Haus hin- und, sooft es dir beliebt, wieder zurückfahren.
Niemand kann ohne deinen Willen zu dir kommen, denn auf dem ganzen See
ist kein anderes Schifflein als dieses."
Als die Fremden dies gesagt hatten, nahmen sie Abschied von der Königin
und gingen ihres Weges. Die Königin setzte sich sogleich in das Schifflein
und fuhr in das Haus, das mitten im Wasser stand. Hier wohnte sie mit
ihren Kindlein mutterseelenallein, und wenn ihr die Zeit gar zu lang wurde,
dann setzte sie sich auf das Schifflein und fuhr auf dem blauen Wasser
umher.
Der Krieg hatte inzwischen sein Ende erreicht, und der König war
mit der größten Sehnsucht nach Hause geeilt. Seine erste Frage
war: "Wo ist meine Gemahlin?"
Aber er bekam zur Antwort: "Sie ist eines Tages plötzlich verschwunden,
und niemand weiß, wo sie hingekommen ist." Kein Mensch gab
ihm einen andern Bescheid als diesen.
Da weinte er viele Tage hindurch und war gar nicht zu trösten. Als
der Schmerz mit der Zeit etwas nachgelassen hatte, dachte er wieder an
die Jagd, die er von jeher gern getrieben hatte. Manchen Tag jagte er
ganz allein im Wald herum und kehrte erst spätabends wieder nach
Hause.
Einmal begegnete es ihm aber, daß er sich im Wald verirrte und so
lange pfad- und planlos herumtappte, bis die Nacht anbrach. Er suchte
noch lange im Dunkel herum, konnte aber keinen Ausweg finden. Endlich
kam er auf einen Hügel, von dem aus er ein Licht erblicken konnte.
Er ging dem Licht zu und gelangte bald zu einem See, darauf schwamm ein
Schifflein herum, und im Schifflein saß eine Frau mit ihren zwei
Kindern. Er rief in seiner Bangigkeit zu dem Schifflein hinüber und
bat die Frau, zu ihm herzufahren und ihm ein Obdach für die Nacht
zu geben.
Die Frau fuhr heran und hieß ihn in das Schifflein steigen. Sie
erkannte ihn auch augenblicklich als ihren Gemahl, gab sich ihm aber nicht
zu erkennen, sondern brachte ihn wie einen Fremdling in ihr Haus auf dem
See. Hier stellte sie ihm ein kräftiges Nachtessen vor und bereitete
ihm ein weiches Nachtlager. Er aß mit großem Appetit, weil
er von dem vielen Herumlaufen hungrig geworden war, und nachdem er gegessen
hatte, legte er sich wegen Müdigkeit sogleich ins Bett.
Im Schlaf geschah es nun, daß er den Fuß etwas über das
Bett hinaushängen ließ. Die Königin bemerkte es und sagte
zu ihrem Sohn: "Peter, geh hin und leg dem Vater den Fuß ins
Bett."
Der Peter ging hin und tat, wie ihm die Mutter befohlen hatte. Der König
aber war noch nicht tief eingeschlafen und hatte die Rede der Frau so
halb und halb verstanden. Das Wort Vater kam ihm so sonderbar vor, daß
es ihm nimmer aus dem Kopf wollte. Weil er aber nicht wußte, ob
er etwa bloß geträumt habe, so legte er jetzt die Hand über
das Bett hinaus. Die Königin bemerkte das wieder und sagte zu ihrem
anderen Sohn: "Paul, leg dem Vater die Hand ins Bett."
Wie der König das hörte, sprang er sogleich aus dem Bett und
fragte die unbekannte Frau, ob sie denn wirklich seine Gemahlin sei und
die zwei bildschönen Knaben seine Kinder wären. Als sie es bejahte,
fiel er ihr und den Söhnen um den Hals, küßte und herzte
sie ohne Ende und hatte eine Freude, daß er laut hätte aufjauchzen
mögen. Er fragte die Königin um alles, wie sie hierhergekommen
sei und woher sie die gesunden Hände und Füße bekommen
habe, und erzählte dann selbst wieder von seinen Kriegszügen
und Abenteuern, so daß die Nacht vor lauter Fragen und Erzählen
im Nu vorbeiging, ohne daß sie ans Schlafen dachten.
Als der Tag anbrach, setzten sie sich alle vier in das Schifflein und
fuhren ans Ufer. Hier stiegen sie aus und begaben sich nun auf den Weg
in die Heimat. Am Hof wurde die Königin von niemandem erkannt, und
daß die zwei Knaben des Königs Söhne seien, das wäre
gar keinem im Traum eingefallen.
Der König ließ jetzt Anstalten machen zu einer herrlichen Mahlzeit
und lud dazu alles ein, was nur am Hof war, und auch die Mutter der Königin.
Bei der Mahlzeit fing er an, die Lebensgeschichte seiner Gemahlin zu erzählen,
tat aber, als ob sie sich nur mit irgendeiner Frau zugetragen hätte.
Als er mit seiner Erzählung zu Ende war, fragte er die Wirtin, was
die Mutter und Schwiegermutter, von denen in der Erzählung die Rede
war, für eine Strafe verdienten.
Die Wirtin meinte, es könnte ihr Urteil nicht ganz gerecht ausfallen,
es solle die alte Königin urteilen, die in diesen Stücken sicherlich
mehr verstehe. Der König wandte sich also an seine Mutter und forderte
sie auf, ihre Meinung zu sagen. Sie war mit ihrem Urteil bald fertig und
sagte: "Solche Bösewichter verdienen, auf dem Scheiterhaufen
verbrannt zu werden."
"Ist ganz recht", erwiderte der König und gab alsogleich
Befehl, daß seiner Mutter und der Wirtin nach diesem Urteil geschehe.
Der König und die Königin lebten jetzt froh und glücklich
beieinander und hatten alles, was sie wünschten, in Hülle und
Fülle. Am meisten Freude machten ihnen die zwei Prinzen, welche so
schleunig heranwuchsen, daß man es ihnen fast von Tag zu Tag ansehen
konnte. Sie waren bald so stark, daß sie mit dem Vater in den Forst
hinausgehen und das Jägerhandwerk betreiben konnten.
Als sie in das Alter gekommen waren, wo junge Leute Lust bekommen, die
Welt zu sehen, da sagten sie zu ihrem Vater: "Vater, wir sind jetzt
lange genug in der Heimat gesessen, wir wollen nun auch hinausziehen und
uns in der Welt umschauen."
Der Vater gab ihnen seine Erlaubnis, und sie machten nun alles zur Abreise
fertig. Auch gingen sie in den Wald hinaus, und jeder von ihnen fing sich
ein junges Bärlein, um es zum Tanzen abzurichten. Auch steckten sie
ein Messer in einen Baum und sprachen zueinander: "Wenn einer von
uns wiederkehrt und sieht dies Messer von Rost angelaufen, so soll ihm
das ein Zeichen sein, daß dem andern ein Unglück begegnet ist."
Sie gingen nun wieder nach Hause, und nachdem die Bärlein einige
Tänze gelernt hatten, auch sonst alles zur Abreise in Ordnung war,
nahmen sie Abschied von der Heimat und gingen hinaus in die weite, weite
Welt. Der Peter reiste nach Babylon, der Paul aber noch tiefer hinein
in das Morgenland.
Als der Peter in Babylon angekommen war, zog er mit seinem Bärlein
in der Stadt umher und ließ es vor den Leuten seine Tänze aufführen.
Der Ruf von dem jungen Menschen und seinem Tanzbärlein kam auch dem
babylonischen König zu Ohren, und er ließ ihn alsbald an den
Hof berufen. Der Bursche erschien und gefiel dem König so sehr, daß
er ihn nicht wieder fortließ, sondern bei sich am Hof behielt. Er
gewann ihn auch von Tag zu Tag lieber und war ihm bald so zugetan, daß
er ihm seine Tochter zur Gemahlin gab und ihn zum Vizekönig von Babylon
ernannte.
Der junge Vizekönig hatte keine liebere Unterhaltung als die Jagd
und durchstreifte oft die finsteren Wälder, ohne jemanden mit sich
zu nehmen als sein tanzendes Bärlein. Die Vizekönigin hatte
wohl oft große Sorge um ihn und sagte: "Schau, geh nicht allein
hinaus in den finsteren Wald. Es könnte dir leicht etwas zustoßen
von wilden Tieren oder von bösen Menschen."
Der Vizekönig aber ließ sich dadurch nicht irremachen, suchte
seiner Gemahlin die Sorgen auszureden und ging wieder mit seinem Bärlein
allein auf die Jagd.
So war er auch einmal mit seinem Bärlein tief in den Wald hineingeraten.
Auf einmal sah er kohlschwarze Wolken heranziehen und hörte einen
schaurigen Wind durch die Bäume rauschen. Es wurde immer finsterer,
und auf einmal fing es an zu regnen, als ob der Himmel offen wäre.
Vom Wind und der Nässe wurde dem Vizekönig bald so kalt, daß
er Holz zusammenzulesen begann und sich ein Feuer anmachte.
Als das Feuer unter einem dichten Baum recht lustig aufflackerte und er
dabeistand und mit den Händen über die Flammen fuhr, kam ein
altes Mütterchen herbei, dem vor lauter Frost die Zähne klapperten.
"Darf ich mich nicht ein bißchen wärmen an deinem Feuer?"
brummte die Alte und schaute den König verstohlen an.
"Komm nur näher", erwiderte der Vizekönig, "und
schau, daß dir warm wird. Es friert heute stark."
"Aber tut mir das Vieh da wohl nichts?" fragte die Alte wieder,
schlug aber zugleich mit einer Rute, die sie mit sich trug, auf das Bärlein.
Und im Augenblick war das Bärlein in Stein verwandelt. Dann schlug
sie mit der Rute auf den Vizekönig, und augenblicklich hatte auch
dieser seine menschliche Gestalt verloren und war in Stein verwandelt.
Der andere Bruder, Paul, war indessen weit, weit in das Morgenland hineingereist
und hatte allerlei gesehen und erlebt, so daß er glaubte, es könnte
jetzt einmal genug sein, und sich anschickte, nach Hause zu reisen.
Nachdem er viele Tage und Wochen gewandert war, kam er endlich in dem
Wald an, wo die zwei Brüder das Messer in den Baum gesteckt hatten.
Voller Neugierde und Besorgnis suchte er den Baum auf, und mit dem größten
Schrecken sah er das ganze Messer mit Rost überzogen. Sogleich dachte
er: Meinem Bruder muß etwas Böses widerfahren sein; ich will
mich aufmachen nach Babylon und sehen, was ihm begegnet ist. Augenblicklich
kehrte er wieder um und machte sich aufs neue dem Morgenland zu.
Nach langer, langer Wanderung kam er in Babylon an. Als ihn die Leute
mit seinem Bärlein durch die Gassen kommen sahen, erhob sich von
allen Seiten ein Jubel- und Freudengeschrei, das gar nimmer enden wollte.
Denn weil er seinem Bruder auf ein Haar gleichsah und auch ein Bärlein
mit sich führte, so hielten ihn die Leute für den Vizekönig
und taten ihm alle Ehren an. Bei Hof wurde er auch als Vizekönig
begrüßt und freudenvoll aufgenommen, und der Vizekönigin
war der schwerste Stein vom Herzen gefallen, weil sie glaubte, ihr Mann
sei wiedergekommen. Paul gab sich auch nicht zu erkennen und erkundigte
sich nur insgeheim über seinen Bruder.
Er war erst wenige Tage am Hof, als er einmal sagte, er wolle jetzt in
den Wald hinausgehen auf die Jagd. Da fing die Vizekönigin an zu
weinen und bat ihn kniefällig, zu Hause zu bleiben und ihr nicht
wieder solche Ängste zu verursachen. Er aber ließ sich nicht
irremachen und ging mit seinem Bärlein hinaus in den Wald.
Er war noch nicht lange zwischen den Bäumen herumgestrichen, da zogen
stockfinstere Wolken herauf, und ein schneidiger Wind pfiff durch die
Bäume. Es fing an völlig unheimlich zu werden in dem dunklen
Wald, und wenn du und ich dabeigewesen wären, so hätten wir
uns zu Tode gefürchtet. Bald fing es auch an zu schütten, als
ob der Himmel offen wäre, und Blitz und Donner wechselten immerfort
ab. Wegen des scharfen Windes und der Nässe fing den Paul zu frieren
an, er suchte Holz zusammen und machte sich ein Feuer. Als die Flammen
unter einem dichten Baum aufflackerten und der Paul mit den Händen
darüber hin und her fuhr, kam eine abscheuliche Alte mit einer Rute
zwischen den Bäumen hervor und schnatterte, als ob sie das Fieber
hätte. "Oh, wie ist es so kalt, wie beutelt es mich zusammen,
darf ich mich nicht ein bißchen wärmen?" murmelte sie
in einem fort.
"Komm nur her", sagte Paul, "das Feuer ist groß genug
für uns beide."
"Aber tut mir das Bärlein wohl nichts?" fragte die Alte.
"O nein", sagte Paul und riß der Alten die Rute aus der
Hand, als ob er das Bärlein damit fortjagen wollte. Er schlug aber
nicht auf das Bärlein, sondern auf die Alte, und augenblicklich war
sie in Stein verwandelt. Dann schlug er mit der Rute auf den nächsten
Stein, und siehe da, statt des Steins stand ein Bärlein vor ihm,
das gar freundlich um ihn herumtappte. Dann ging er wieder zum nächsten
Stein und schlug mit der Rute darauf. Und augenblicklich stand sein Bruder
vor ihm, fiel ihm um den Hals und wollte nimmer aufhören, ihn zu
herzen und zu küssen vor lauter Freude und Dankbarkeit.
Dann gingen die zwei Brüder mit ihren Bärlein zurück nach
Babylon, wo es eine Freude und Verwirrung gab, die ohne Grenzen war. Die
Leute sahen wohl, daß einer von den beiden der Vizekönig sein
müsse, konnten aber nicht unterscheiden, welcher es denn eigentlich
sei. Manche schauten sich fast die Augen heraus, konnten aber doch keinen
Unterschied zwischen den beiden herausfinden. Als sie endlich an den Hof
kamen und vor die Vizekönigin traten, da wußte sich diese nicht
zu raten und zu helfen, weil sie ihren Gemahl nicht herausfinden konnte.
Peter aber gab sich ihr durch ein verborgenes Merkmal zu erkennen, und
da war ihre Freude erst vollkommen. Sie lebten wieder froh und glücklich
beieinander bis in ein hohes Alter.
Paul ging nach Hause zu seinen Eltern, und auch ihm ging es gut sein Lebtag.
(mündlich bei Meran)
Quelle: Ignaz und Joseph Zingerle, Kinder- und Hausmärchen aus Süddeutschland, Regensburg 1854