Der Wurm
Es war einmal ein Jäger, der hatte ein Weib und viele Kinder, aber
dabei eine sparsame Schüssel. Die Wirtschaft machte ihm viele Sorgen,
und er hätte gern alles selbst getan, was es von Männerarbeit
in und außer dem Hause zu tun gab; allein er machte es doch nicht
recht und mußte bei seinem schmalen Einkommen auch noch einen Knecht
halten. Mit der Jägerei ging es ihm, wie es jedem geht; heute bekam
er etwas, morgen wieder nichts, und wenn er sich den ganzen Tag müde
gelaufen hatte, so mußte er oft abends mit leerer Tasche heimgehen.
Nicht weit von seinem Haus war ein großmächtiger Berg, und
auf diesem jagte er am häufigsten und am liebsten, weil er da doch
am leichtesten ein Wild zu sehen bekam. Da sah er einmal, als er auf diesem
Berg jagte, oberhalb des Fußsteigs einen Menschen liegen. Der Hund
sprang hinzu, rannte mit lautem Bellen um den Liegenden herum und tat
so wild, als ob er ihn zerreißen wollte. Der Jäger hatte genug
zu tun, ihn zurückzuhalten, es kam ihm aber ganz sonderbar vor, daß
der Hund, der sonst niemandem etwas zuleide tat, mit solcher Wut über
diesen Menschen herfiel. Während der Hund um ihn herumbellte, erhob
sich der Liegende ein wenig und sagte zum Jäger: "Sei doch so
gut und gib mir diesen Hund zu kaufen."
"Nein", sprach der Jäger, "diesen Hund brauche ich
selbst, und kann ihn dir nicht geben. Ich habe aber noch einen zu Hause,
den kannst du bekommen, wenn es dir um einen Hund gerade zu tun ist."
"Ist schon recht", sagte der Liegende, "gib mir nur den
anderen zu kaufen. Aber morgen gerade um diese Zeit mußt du ihn
herbringen, dann wollen wir den Handel schließen. Hast du gehört
- gerade um diese Zeit."
Der Jäger gab sein Wort darauf, ging dann mit seinem Hund davon und
jagte noch eine Weile auf dem Berg. Weil er aber gar nichts bekam, so
ließ er das Herumlaufen gut sein und machte sich auf den Heimweg.
Als er nach Hause kam, ging er vor allem, seine Frau zu grüßen,
und erzählte ihr, daß er den Hund, den er doch nie auf die
Jagd mitnehme, verschachert habe. Die Jägersfrau war froh darüber
und sagte: "Hättest ihm den andern schon auch lassen können;
wir geben unser Brot besser den Kindern zu essen, als daß wir damit
die Hunde füttern."
Am anderen Tag, als es gegen die bestimmte Zeit ging, sagte der Jäger:
"Ich muß jetzt mit dem Hund hinausgehen, sonst könnte
der Mensch nicht warten, und mit dem Handel wäre es nichts."
Er lockte den Hund, den er dem Menschen versprochen hatte, und wollte
gehen. Da lief sein dreizehnjähriges Töchterlein herbei und
schrie: "O Vater, laßt mich auch mitgehen!"
"Aber warum willst du denn gerade heute mitgehen?" fragte der
Jäger.
Das Mädchen wußte darauf keine Antwort zu geben, hörte
aber nicht auf zu bitten, daß es mitgehen dürfe. Inzwischen
kam auch die Jägerin herbei und half dem Mädchen, so daß
der Vater endlich einwilligte und es mitgehen ließ.
Sie gingen nun hinaus auf den Berg und kamen zu dem Steig, an welchem
der Mensch gestern gelegen hatte. Heut lag aber dort ein unbändiger
Wurm, so daß dem Jäger bang wurde und er sich gleich dachte,
mit dem Menschen, den gestern der Hund angebellt hatte, sei es nicht richtig
gewesen. Er nahm sein Töchterlein an der Hand und sagte: "Geh,
wir wollen umkehren. Mir ist schon gestern der Mensch nicht richtig vorgekommen,
und heute liegt anstatt seiner ein Wurm da."
Das Mädchen fürchtete sich auch, reichte ihm gerne die Hand,
und sie wollten gehen. Da regte sich der Drache, schoß auf das Mädchen
los, umschlang es mit dem Schweif und fuhr damit in den Berg hinein. Der
Jäger war völlig starr geworden vor Schreck und schaute dem
Ungetüm nach. Jetzt reute es ihn, daß er keine Büchse
mitgenommen hatte; denn wäre er bewaffnet gewesen, so hätte
er dem Drachen wohl doch was Gesalzenes auf die Haut gebrannt. Das bloße
Nachschauen half aber nichts, und er mußte sich endlich entschließen,
nach Hause zu gehen und die traurige Botschaft zu bringen.
Als er heimkam und mit dem verstörten Gesicht seiner Frau begegnete,
fragte diese sogleich: "Wo hast du denn das Mädel gelassen,
daß du es nicht mitbringst?"
Da kamen dem Jäger die Tränen in die Augen, und er erzählte
weinend, was ihm begegnet war. Als die Jägersfrau das hörte,
erschrak sie sehr, jammerte im ganzen Haus herum und sagte in einem fort:
"Wir haben das Kind viel zuwenig gesegnet, sonst hätte es ihm
nicht so übel ergehen können."
Am anderen Tag ging der Jäger wieder hinaus auf den Berg, durchstreifte
ihn den ganzen Tag nach allen Richtungen und meinte, er müsse eine
Spur seines Kindes entdecken. Allein er fand nicht einmal ein Stücklein
Gewand und mußte abends unverrichteterdinge wieder heimgehen. Allein
er ließ sich nicht abschrecken, sondern ging noch oft und oft hinaus,
suchte alle Winkel und Löcher durch und dachte auch beim Schießen
immer an seine Tochter. Aber kein Suchen wollte etwas helfen, und es vergingen
sieben Jahre, ohne daß er nur die mindeste Spur des Mädchens
entdeckt hätte.
Nach sieben Jahren trug es sich zu, daß der Jäger mit seinem
Knecht auf den Berg jagen ging. Da sahen sie ein schönes Wild vorüberrennen,
setzten ihm nach und meinten es bald zu bekommen. Das Wild aber war immer
gerade so weit von ihnen, daß sie nicht zu Schuß kamen, verlor
sich aber nie ganz aus ihren Augen. Sie meinten, das Wild müßten
sie heute noch kriegen, möchte es gehn, wie es wollte. So liefen
sie ihm lange Zeit vergebens nach und merkten nicht, daß es schon
zu dämmern anfing. Erst als es völlig Nacht war, hielten sie
an, und der Jäger sagte zum Knecht: "Jetzt haben wir uns schön
verspätet, es ist schon Nacht, und wir kommen nimmer heim."
"Das ist mir gleich", sagte der Knecht, "es ist ja nicht
kalt, und wir können auf dem Boden hier ebensogut schlafen wie daheim
im Bett."
"Nein", sprach der Jäger, "auf den Boden hier leg'
ich mich nicht. Es ist ja gerade heute sieben Jahre, daß der Wurm
mein Töchterlein weggetragen hat, und wenn wir da auf dem Boden lägen,
so könnte es uns wohl auch passieren, daß ein Wurm oder sonst
eine Bestie über uns herfällt und uns zerreißt."
"Wart ein bißchen", erwiderte der Knecht, "ich will
da auf einen Baum hinaufsteigen und herumschauen, ob ein Haus in der Nähe
ist."
Da lachte ihn der Jäger aus und sagte: "Jawohl, ein Haus in
der Nähe! Ich kenn' den ganzen Berg von oben bis unten und weiß
ganz gewiß, daß hier herum kein Haus ist."
Der Knecht ließ sich aber nicht abhalten, stieg auf den Baum und
schaute umher. "Siehst du", rief er auf einmal, "gerade
ein bißchen ober uns sehe ich ein Licht, da oben ist gewiß
ein Haus, wo wir über Nacht bleiben können."
Dem Jäger kam das sonderbar vor, weil er nur gar zu gut wußte,
daß in dieser Gegend weitum keine menschliche Seele ihre Wohnung
hatte. Der Knecht stieg schleunig vom Baum herab und sagte: "Jetzt
wollen wir hinaufgehen zu dem Licht und schauen, ob uns die Leute droben
ein Obdach geben."
Der Jäger hatte keinen Schneid, mitzugehen, weil aber der Knecht
nicht nachgab und ihn auslachte, entschloß er sich endlich, und
sie stiegen beide den Berg hinauf. Sie waren kurze Zeit gegangen, da funkelte
das Licht ganz hell zwischen den Ästen durch, und der Jäger
sah jetzt wohl, daß der Knecht richtig gesehen hatte. Allein es
wurde ihm nur desto banger, weil er gewiß wußte, daß
hier sonst niemals ein Haus stand, und seine Angst wurde noch größer,
als sie einige Schritte vorwärts gegangen waren und ein herrliches
Schloß vor ihnen stand, aus dem ihnen das Licht entgegenstrahlte.
Der Knecht blieb stehen und sagte: "Jetzt siehst du, wer von uns
beiden recht gehabt hat. Das hab' ich mir gleich gedacht, wenn ein Licht
am Berg ist, so ist ein Haus auch dabei. Wir wollen nun hinaufgehen und
die Leute um Unterkunft bitten."
Der Jäger riet ihm davon ab und sprach: "An diesem Platz bin
ich oft gewesen, aber da ist niemals ein Schloß gestanden. Glaub
mir, das ist nichts Rechtes. Wir wollen lieber umkehren und auf einem
Baum übernachten."
Der Knecht ließ sich nicht abhalten und sagte, er wolle einmal hineingehen,
und sei es, was es wolle.
Dann muß ich halt auch mitgehen, dachte sich der Jäger und
stieg mit dem Knecht zur Tür hinauf. Sie gingen hinein, der Knecht
mutig voraus, der Jäger verzagt hintennach. Da kam ihnen eine wunderschöne
Jungfrau entgegen und fragte sie, was sie wollten.
Der Knecht nahm das Wort und sagte: "Wir haben uns im Wald verspätet
und kommen nimmer nach Hause. Dürften wir nicht um eine Nachtherberge
bitten?"
"O ja", erwiderte die Jungfrau, "über Nacht bleiben
könnt ihr genug, aber nur eins sage ich euch: Ihr dürft euch
weder grausen 1) noch fürchten."
"Wenn es weiter nichts ist", sagte der Kecht, "dann können
wir wohl über Nacht bleiben, denn grausen und fürchten tun wir
uns gar nicht."
Das konnte der Knecht wohl von sich sagen, aber der Jäger hinter
ihm dachte ganz anders, obwohl er jetzt den Mund hielt und sich in das
Schicksal fügte.
Die Jungfrau führte nun die beiden hinauf in ein Zimmer. Sie hieß
sie da niedersetzen, ging dann in die Küche und brachte ihnen zu
essen. Die zwei aßen mit gutem Appetit, und es kam ihnen gar kein
Grausen. Während sie aßen, brachte die Jungfrau einen Bottich
und stellte ihn im Zimmer nieder. Dann ging sie um Wasser und trug so
lange Wasser herein, bis der Bottich voll war. Die zwei wußten nicht,
was das zu bedeuten habe, und der Jäger fürchtete sich noch
immer im stillen. Da kam auf einmal ein abscheulicher Wurm zur Tür
herein und stürzte sich in den Bottich, daß das Wasser hoch
aufspritzte. Der Jäger fürchtete sich jetzt noch mehr, denn
soviel er ausnehmen konnte, war das der nämliche Wurm, der ihm vor
sieben Jahren die Tochter geraubt hatte. Jetzt ging die Jungfrau zum Bottich
und fing an, den Wurm fleißig zu waschen. Je länger sie wusch,
desto roter wurde das Wasser, und zuletzt war es so rot, als ob lauter
Blut in dem Gefäß wäre. Da mußten sich die zwei
am Tisch stark zusammennehmen, daß ihr Herz nicht anfing zu flattern.
Als die Jungfrau den Wurm sauber gewaschen hatte, half sie ihm heraus.
Da hub er an zu reden und sprach: "Jungfrau, möchtest du mich
nicht heiraten?"
"Nein", sagte sie, "das kann ich nicht, du bist ja ein
Wurm, und ich bin ein Mensch."
Er fragte sie noch einmal: "Jungfrau, tätest du mich nicht heiraten?"
Sie aber sagte wieder: "Nein, das kann ich nicht, du bist ja ein
Wurm, und ich bin ein Mensch."
Da fragte er sie zum dritten Male: "Jungfrau, möchtest du mich
denn gar nicht heiraten?"
Da konnte sie es ihm nicht mehr abschlagen, sondern erbarmte sich über
ihn und sagte: "Weil du nicht nachgibst, so will ich dich halt nehmen.
Ich habe dich sieben Jahre gewaschen, nun werde ich dich wohl noch eine
Weile waschen können."
Kaum hatte sie das gesagt, war der Wurm verschwunden, und es stand anstatt
seiner ein wunderschöner Jüngling vor ihr, der ihr als Bräutigam
die Hand bot und sagte: "Du hast mich jetzt erlöst, zum Dank
dafür will ich dich wirklich zur Frau nehmen und dir ein angenehmes
Leben bereiten. Zeug und Sachen haben wir in dem Schloß genug, und
das Schloß selbst wird auch nicht mehr verzaubert sein, wie es bisher
war."
Dann führte er die Jungfrau vor den Jäger und fragte ihn: "Kennst
du dieses Mädchen?"
Der Jäger sagte: "Wie sollte ich sie kennen?"
"Schau sie einmal gut an", sprach der Jüngling, "und
sage, ob es nicht etwa deine Tochter ist. Sieben Jahre, bevor sie auf
die Welt kam, war ich schon verbannt. Dreizehn Jahre mußte ich warten,
bis ich sie auf mein Schloß brachte, und sieben Jahre hat sie mich
täglich waschen müssen. Jetzt ist der Zauber aus, und ich nehme
sie zu meiner Gemahlin. Ihr alle braucht jetzt keine Not mehr zu leiden,
und auch wenn du noch mehr Kinder hättest, als du wirklich hast,
würde mein Gut wohl ausreichen, für sie zu sorgen."
Der Jäger wußte nicht, wie ihm geschah, als er dies alles mit
anhörte, er schaute bald die Jungfrau, bald den Jüngling an
und konnte es fast nicht glauben, daß die Frau sein Kind, der andere
sein künftiger Schwiegersohn sein sollte. Aber wenn er seinen Augen
trauen wollte, so mußte er doch glauben, daß seine Tochter
wirklich vor ihm stehe, und warum er dem Jüngling nicht glauben sollte,
das wußte er auch nicht. Er war völlig außer sich vor
Freude, sprang auf, umarmte beide und dankte lange Zeit, daß alles
so gut abgelaufen war.
Am anderen Tag gingen sie alle miteinander ins Jägerhaus und stellten
sich der Jägersfrau vor und erzählten ihr die ganze Geschichte.
Diese hatte eine solche Freude, daß es gar nicht zu sagen ist, und
beeilte sich, die Anstalten zur Hochzeit zu treffen. Wie alles in Ordnung
war, wurde die Hochzeit mit großer Pracht gefeiert.
Von nun an hatten die Jägersleute bei dem Gemahl ihrer Tochter das
beste Leben, und alle miteinander waren fein bis an ihr Ende.
1) grausen: ekeln
(gehört in Meran)
Quelle: Ignaz und Joseph Zingerle, Kinder- und Hausmärchen aus Süddeutschland, Regensburg 1854