Üselek
Es war einmal, und es war auch nicht. In einem Dorf hatte eine arme Frau einen Sohn namens Üselek. Üselek ging in die Schule. Der Lehrer verlangte jeden Donnerstag von den Schulkindern eine Freitagsgabe. Weil Üselek und seine Mutter nichts besaßen, konnte er nichts mitbringen.
Eines Tages sagte seine Mutter: "Mein Sohn, bring du auch etwas hin, genau wie die anderen", und schlachtete ihr einziges Huhn. Sie kochte auch Pilav dazu und gab ihn ihrem Sohn in die Hand.
Üselek, der sich in seinem Leben nicht einmal an trockenem Brot hatte sattessen können, litt Höllenqualen. Er setzte sich am Wegesrand hin und aß den Pilav und das Huhn. Weinend kam er zur Schule. Der Lehrer fragte Uselek:
"Was ist mit dir, mein Sohn?"
"Lieber Lehrer, ich hatte dir Pilav und gekochtes Huhn gebracht. Als ich kam, flog ein Hahn vom Aschenhaufen, und mein Huhn lief hinter ihm her. Als sie weggelaufen waren, habe ich put-put gerufen und dem Huhn Pilav gestreut und konnte es doch nicht halten."
Der Lehrer, der die Pfiffigkeit dieses Kindes erkannte, dachte: Daß er bloß nicht noch den Honig und die Sahne aufißt, die jene Kinder der Reichen gebracht haben! und sagte:
"Mein Sohn, mach dir nichts daraus, daß es weggelaufen und weggeflogen ist. Das ist nicht so schlimm! Hüte dich nur, die Sachen an dem Fenster dort zu essen, denn sie sind giftig, du wirst davon sterben!"
Als der Lehrer zum Unterricht in das andere Zimmer gegangen war, nahm Üselek das Rasiermesser des Lehrers, das unter des Lehrers Bett lag. Er ging, tauschte es auf dem Markt bei einem Bäcker gegen ein feines Weißbrot ein und kam zurück. Er tat sich an allem gütlich, was der Lehrer zu essen hatte. Als sein Magen voll war, ging er weinend zu dem Lehrer. Der Lehrer sagte:
"Was ist denn nun mit dir los?"
"Lieber Lehrer, ich habe dein Rasiermesser mit auf den Abtritt genommen und wollte mir die Fingernägel schneiden und habe es in die Grube fallen lassen. Weil ich dachte: * Wie soll ich jetzt dem Lehrer in die Augen sehen?, habe ich alle Sachen gegessen, die du als Gift bezeichnet hast, bin aber nicht gestorben, hihi..."
Der Lehrer zog die Stirn kraus, sagte aber nichts. Er war nur sehr verblüfft und schüttelte den Kopf ...
Darüber geriet Üselek in Angst und entschloß sich, aus dem Dorf auszureißen. Er machte sich auf den Weg. Da kamen staubbedeckte Reisende mit Maultieren.
Üselek sagte zu ihnen: "Liebe Leute, ich werde mit euch gehen", und schloß sich ihnen an.
So gelangten sie an ein Dorf. Auf der Weide gegenüber dem Dorf luden sie ihre Lasten ab, dann sagten sie zu Üselek:
"Los, Kind, los, gehe in jenes Dorf, bitte um etwas Brot und bring es her!"
Üselek ging ins Dorf. Aus einem Haus duftete es nach Fett, und er begab sich zu dem Haus. Vorsichtig steigt er auf das Dach des Hauses. In jenem Haus hatte man Pasteten gebacken und aufs Dach gelegt, damit sie abkühlen. Üselek füllte seinen Rucksack mit den Pasteten. An einer Ecke des Daches lag ein Hund. Da öffnete sich die Tür des Hauses, und als jemand herauskam, warf Üselek dem Hund ein Stück Pastete hin, und kaum hatte es der Hund ins Maul genommen, rief er:
"Weg, weg ... er möge erblinden ... bis ich auf das Dach gekommen
bin und die Pasteten retten konnte, hat er ein Tablett voll aufgefressen!"
Mann und Frau, denen es leid um die Pasteten war, jagten den Hund fort.
Üselek entkam und ging zu seinen Gefährten.
Sie aßen die Pasteten mit großem Appetit und machten sich wieder auf den Weg ...
Sie kamen an ein anderes Dorf. Da schickten sie Üselek wieder, um Brot zu beschaffen. Üselek ging auch diesmal zu einem Haus, aus dem es nach Fett roch. Er trat in den Vorhof ein und stieg die Treppe hoch. Er wandte den Kopf vorsichtig nach der Tür des Zimmers um und lauschte; da sagte ein Mann zu seiner Frau:
"Was ist das, Frau, wohin geht diese Pastete nun wieder?"
"Eben war ein Bettler hier und hat darum gebeten. Er hat gesagt:
Macht mir um Eures einzigen Kindes willen etwas Pastete! Und da habe ich
sie ihm gemacht", sagte die Frau.
Da rief Üselek von draußen:
"Na, Mutter, ist sie noch nicht fertig?"
Diese Frau aber hatte die Pastete für einen Liebhaber gemacht, der war in dem anderen Zimmer versteckt. Als der Ehemann hinausgegangen war, wurde die Frau böse auf Üselek und machte ein Zeichen: Los, verschwinde! Üselek aber verstand das als: Geh in jenes Zimmer und warte einen Augenblick! Als die Frau in das Zimmer kam, in dem ihr Mann war, ging Üselek in das andere Zimmer. Der Liebhaber der Frau, der in jenem Zimmer verborgen war, hatte zuerst Angst vor Üselek, merkte dann aber, daß das ein Fremder war. Schweigend warteten beide. Die Frau dachte, daß Üselek fortgegangen sei, und brachte ein Tablett mit Pasteten in das Zimmer, in dem sie warteten, und sagte zu ihrem Liebhaber: "Iß und geh!" und ging zu ihrem Mann.
Von dem anderen Tablett aber begannen dort Mann und Frau zu essen. Üselek
machte sich sofort an die Pasteten, nahm ein riesiges Stück in den
Mund, und damit seine Hände nicht müßig seien, während
er aß, füllte er seinen Rucksack mit Pasteten voll. Der andere
Mann flüsterte:
"He, was machst du Bursche denn da? Diese Pasteten sind für
mich, und du packst sie alle ein!"
Üselek sagte laut:
"Was soll ich machen? ... Iß du, ich esse auch!"
Als der Mann sagte: "Still, sprich leise, man soll uns nicht hören!
... Allah soll dich strafen!", sagte Üselek wieder laut:
"Allah hat viele Strafen, etwas soll er auch dir geben!"
Der andere wurde böse auf Üselek und gab ihm eine Ohrfeige. Üselek aber hob das leere Pastetentablett hoch und ließ es auf den Kopf des Mannes niedersausen. Der Kerl nahm die Beine in die Hand und floh. Sowie Üselek den Rucksack vollgefüllt hatte, rannte er zu seinen Gefährten und kam erst dort wieder zu Atem. Sie aßen die Pasteten. Üselek trennte sich von ihnen ...
Üselek ging in ein anderes Dorf. Am Rande des Dorfes traf er zwei Kinder, die gekommen waren, um Almosen zu erbetteln.
"Kinder", sagte er, "ihr seid arm und ich auch. Wenn ihr tut, was ich sage, werden wir schnell reich werden. Ich werde euer Vater sein, und ihr sollt mich Vater nennen ... Wenn ich mich mit jemandem prügeln sollte, sterbe ich zum Schein und zeige durch nichts, daß ich am Leben bin. Ihr aber sagt: ,Du hast unseren Vater getötet. Wir werden dich einsperren lassen!' und weint. Wenn sie sagen: ,Wir wollen euch Geld geben, sagt es nur den Gendarmen nicht!', fordert dreihundert Lira. Wenn ich begraben werde, werde ich es schon so einrichten, daß ich nicht ersticke. Aber wenn die Frageengel 1) kommen, werde ich euch zurufen: ,Ihr Toten im Himmel und auf der Erde, kommt herbei!' Ihr aber seid hinter den Grabsteinen verborgen und kommt herbei und ruft: ,Wir kommen!' und rettet mich vor den Keulenhieben des Frageengels."
Die drei Betteljungen kamen in das Dorf und sammelten etwas. Als sie an das Haus eines reichen Mannes gekommen waren, brachte Üselek den Mann in Zorn, und der Mann gab Üselek eine Ohrfeige. Üselek aber stellte sich scheintot. Die Kinder begannen zu weinen.
Das eine Kind lief los und rief:
"Ich werde es den Gendarmen sagen!"
Der Mann flehte die beiden Kinder an. Er gab ihnen dreihundert Lira und beschwichtigte sie ...
Sie wuschen den Leichnam recht und schlecht und wickelten ihn in ein Leichentuch und wollten ihn wegtragen. Als sie den Sarg auf die Schultern heben wollten, sahen sie, daß ein fremder Hodscha (es war derselbe Hodscha, der in Üseleks Dorf Lehrer gewesen war) mit einem Taschentuch in der Hand dort vorüberging. Das Taschentuch des Hodscha war mit Aprikosen gefüllt. Die Dorfbewohner sagten:
"Hodscha, hier ist die Leiche eines armen Fremden, verrichte das Totengebet! Unser Hodscha ist krank."
Der Hodscha sagte:
"Gut."
Sie bahrten die Leiche auf dem Gebetsstein 2) auf. Der Hodscha legte das Taschentuch, in das die Aprikosen gewickelt waren, neben den Sarg. Als sie dastanden, um das Gebet zu verrichten, lüftete Üselek einen Zipfel des Leichentuches und den Sargdeckel, aß die Aprikosen und tat die Kerne in das Tuch. Als die Dorfbewohner Üselek zu Grabe trugen, nahm der Hodscha das Tuch und ging zurück. Aber als er in das Tuch hineinschaute, sah er eine Menge Aprikosenkerne.
Da sagte er zu sich: "Mensch, du warst ja gar kein richtiger Toter, du bist ja genauso ein Nichtsnutz wie mein Üselek!" und lief wutentbrannt davon.
1) Nach mohammedanischem Glauben halten die sogenannten
Frageengel bald nach der Beerdigung ein erstes Verhör über die
Sünden des Toten ab.
2) Flacher, hoher Stein, auf dem der Sarg bei
der Verrichtung des Totengebets niedergesetzt wird.
Quelle: Pertev Naili Boratav, Türkische Volksmärchen,
Berlin 1967, München 1990
Anmerkung: von dem Studenten Ali Ulvi Özcan, Schüler von Hasanoglan
Köy Enstitüsü, am 2. März 1945 aufgenommen.
Vgl. AaTh 1313.