Aggodägadä
oder der Mann mit dem aufgebundenen Bein
Die Stämme des Waldes und die der Prärie lagen seit einiger Zeit hartnäckig miteinander in Streit, und Aggodägadä mußte mit seinem kleinen Wigwam in eine ganz entlegene Gegend flüchten, um nicht auch einmal seinen Skalp einzubüßen. Dieser Aggodägadä war ein tüchtiger Jäger und Fischer, hatte aber schon in seiner Jugend den Gebrauch des rechten Beins verloren, weshalb er es nun ständig auf seinen Rücken band. Sein Gang bestand daher nur im Hüpfen; doch hatte er darin im Laufe der Zeit eine solche Fertigkeit erlangt, daß ihn keiner mit zwei gesunden Beinen überholen konnte.
Sein größter und gefährlichster Feind war der Büffelchief, der zuweilen wie ein Sturmwind an seiner Hütte vorbeisauste und im Sinn hatte, seine Tochter, das einzige Wesen, das Aggodägadäs Einsamkeit teilte, zu entführen. Aggodägadä mußte alles aufbieten, daß ihm dieser teuflische Plan nicht gelang. Er ließ seine liebe Tochter nie vor die Tür; diese konnte nur durch ein kleines Loch im Dach den blauen Himmel sehen. Sie hatte wunderschönes schwarzes Haar, das war so lang, daß es, wenn sie es ganz aufband, bis auf den Boden reichte.
Als nun einst an einem schönen Morgen der Alte zum Fischfang ging, sagte er zum Abschied zu seiner Tochter: "Es ist heute schönes Wetter, und ich denke, daß der Büffelchief wieder vorbeilaufen wird; sei darum auf der Hut, und gib acht, daß er dich nicht auf seine Hörner spießt."
Kaum hatte er dies gesagt und sich in sein Kanu gesetzt, so stürmte auch schon sein Feind heran und rief ihm allerlei Schimpfnamen zu wie "einbeiniger Grashüpfer", "verkrüppelter Fischspeer" usw.
Aggodägadä eilte natürlich gleich zurück, doch seine Tochter war schon weg. Sie war auf dem Dach gesessen und hatte sich ihr Haar gekämmt, da hatte sie der Büffelchief auf seine Hörner genommen und weggeführt, wobei ihm ein ganzer Trupp seiner Büffeluntertanen treulich mitgeholfen hatte. Als der Büffelchief mit seinem neuen Weib in der Hauptstadt seines Reiches ankam, erwartete ihn ein glänzender Empfang. Seine anderen Weiber hatten die königliche Wohnung recht blankgescheuert und -geputzt und die feinsten Fleischspeisen aufgetragen. Er selbst griff nach seinem Pibbegwan (Flöte) und spielte die sanftesten und schmelzendsten Weisen, die der größte Medizinmann komponiert hatte; das junge Mädchen aber sah dabei immer traurig zur Erde und rührte weder Speise noch Trank an.
Aggodägadä, der sich so plötzlich seiner einzigen Freude beraubt sah, schwor bei allen Vögeln des Waldes, seine Tochter wieder zu holen, es möge gehen, wie es wolle. Das Wasser, durch das ihr Entführer mit ihr geschwommen war, hatte sich glücklicherweise mit einer Eisdecke bedeckt, so daß Aggodägadä keinen Umweg zu machen brauchte. Zahlreiche abgerissene Zweige und Blätter zeigten ihm den rechten Weg, und schon am Abend desselben Tages stand er vor der Hütte des Büffelchiefs.
Seine Tochter bemerkte ihn gleich und bat ihren Gemahl um ein Gefäß, damit sie sich etwas Wasser holen könne. Als er darauf vergebens auf ihre Rückkehr wartete, sammelte er alle seine Büffel um sich, um die Entflohene zu verfolgen; aber es hatten sich auch inzwischen ein halbes Hundert tüchtiger Jäger zu Aggodägadä gesellt, die die Büffel haufenweise niederschossen.
Der Büffelchief entkam zwar noch mit heiler Haut, ließ sich
aber seitdem nie wieder in der Nähe menschlicher Wohnungen blicken.
Quelle: Karl Knortz,
Märchen und Sagen der Indianer Nordamerikas, Jena 1871, Nr 46