Kosmogonie der Miamis
Die Erde war zuerst nur eine kleine flache Insel, die der Meister des Lebens mit grünen Bäumen und Gewächsen geschmückt hatte. Später, als diese bedeutend größer geworden war, nahm der Schöpfer eine Handvoll roter Tonerde und machte ein allerliebstes Menschenpaar daraus, dem er alle Tiere zum Eigentum gab. Da es für diese jedoch sehr mühselig war, die großen Vierfüßer ohne weitere Beihilfe zu erjagen, so griff der Große Geist in den Himmel und gab ihnen die Hunde zu treuen Dienern und Begleitern auf ihren Jagdzügen. Dann rief er Menabuscho herbei, der jedem Strauch, Baum, Vogel, Fisch usw. einen bestimmten Namen geben mußte.
Fleisch allein schmeckte natürlich den Indianern nicht lange, und der Schöpfer, der dies sehr wohl einsah, sagte daher dem Korn im Himmel, es solle hinab auf die Erde gehen und seine Kinder erquicken, die ihm dafür dankbar sein würden. Das Korn gehorchte auch, und als es kam, schärften die Medizinmänner allen ein, es ja nicht zu mißbrauchen und vor allen Dingen nicht mehr davon zu pflanzen, als zu ihrem Bedarf nötig sei, um den Zorn des Großen Geistes nicht auf sich zu laden.
Aber die Miamis vergingen sich einst gegen dieses Gesetz und bepflanzten unermeßlich große Felder mit jenem Gewächs. Da die Ernte sehr ergiebig war, so füllten sie alle Säcke damit, die sie hatten, und vergruben das übrige Korn in der Erde. Eine Menge Körner blieben jedoch in den Stengeln sitzen und wurden von den jungen Leuten als Spielzeug benutzt.
Danach zogen die Miamis fort in eine andere Gegend, wo es bedeutend mehr Wild gab. Alles, was nur den Bogen spannen konnte, ging auf die Jagd, aber kein Pfeil traf, und selbst der des besten Schützen verfehlte sein Ziel. Das mitgenommene Korn war bald aufgezehrt, und die alten Leute, die sich schon vor Mattigkeit und Hunger nicht mehr rühren konnten, beschlossen, sich tot zu hungern.
Da dachte ein junger Mann wieder an seinen früheren Wohnplatz zurückzugehen und sich und seinem sterbenden Vater soviel Korn zu holen, als er überhaupt schleppen konnte. Sein Weg führte an einer großen Büffelherde vorbei, aber seine Pfeile flogen in einer ganz anderen Richtung, wenn sie auch noch so gut gezielt waren.
Zuletzt kam er an einen kristallklaren Strom, an dessen Ufern eine rauchende Hütte stand, die von einem alten kranken Mann bewohnt war. Dieser lag mit dem Rücken dem Feuer zu und lüftete kaum merklich den Kopf, als der Jüngling eintrat. "Ach", seufzte der Jäger, "laß mich ein wenig bei dir ausruhen; ich bin schwach und hungrig, und meine und meines Volkes Pfeile sind machtlos. Ich habe mich deshalb auf den Weg zum Ort unseres Sommeraufenthalts gemacht, um meinem alten Vater etwas von dem Korn zu holen, das wir dort vergraben haben."
Der verkrüppelte Alte, der ein verkleideter Magier zu sein schien, sagte darauf: "Mein Enkel, ihr Indianer habt mich sehr beleidigt und in die traurige und unglückliche Lage gebracht, in der du mich hier siehst. Doch ehe ich weiter mit dir rede, geh erst vor die Hütte, hole dir meinen großen Kessel herein, und labe dich an dem süßen Korn, mit dem er gefüllt ist."
Nachdem sich der junge Mann gestärkt hatte, fuhr der Alte fort: "Meine Knochen sind zerbrochen worden durch die Schuld eurer Jünglinge, die im vergangenen Sommer mit mir gespielt haben, denn ich bin Mondamin oder der Gott des Korns, der für euch vom Himmel gekommen ist. Ihr habt mich sehr beschimpft und schändlich mit Füßen getreten, und das ist die Ursache, warum ihr jetzt von einer Hungersnot heimgesucht werdet und warum eure Pfeile vergeblich fliegen. Alle Leute, die mich achten, sind glücklich und haben stets zu essen."
Darauf schlief der erschöpfte Jüngling ein. Als er am anderen Morgen gestärkt und erfrischt erwachte, lief ein fetter Bär vor der Tür vorbei, den er glücklicherweise schoß, wonach er ihn auf den Rücken nahm und zu seinem Vater schleppte.
Einige andere junge Leute, die ebenfalls um Korn ausgegangen waren, hatten
die Höhlen leer gefunden und waren, als sie zurückkamen, so
schwach, daß sie kaum ihr trauriges Mißgeschick erzählen
konnten. Nun teilte ihnen der glücklichere Jüngling seine Erlebnisse
beim Korngeist mit, und alle diejenigen, die die Hungersnot überlebten,
haben sich später nie mehr auf solche frevelnde Art gegen jene Gottesgabe
versündigt.
Quelle: Karl Knortz,
Märchen und Sagen der Indianer Nordamerikas, Jena 1871, Nr 80