Sayadio

Sayadio betrauerte seine Schwester, die der Tod in den Tagen ihrer Jugendschönheit dahingerafft hatte. Zuletzt beschloß er ins Land der Seelen zu reisen und sie womöglich wieder zurückzuholen. Sein Weg war mit den merkwürdigsten und gefährlichsten Abenteuern gepflastert, die auf Sayadio so niederschlagend wirkten, daß er im Begriff war, den ganzen Plan aufzugeben und wieder zurückzukehren. Da erschien ihm noch zur rechten Zeit ein alter Medizinmann, der ihm einen mächtigen Zauberspruch, der die Kraft des Geisterbannens besaß, mitteilte. Auch gab er ihm das Gehirn der Jungfrau, das er sorgfältig eingewickelt hatte; denn wie sich danach herausstellte, war der Alte der Gehirnbewahrer der Verstorbenen.

Leichten Schrittes und leichten Herzens setzte nun Sayadio seine Reise fort und langte auch bald im Land der Geister an. Aber alle Geister flohen vor ihm, und Sayadio hätte sicher seinen Zweck nicht erreicht, wenn ihm nicht Tarenyawago, der Meister der Zeremonien, seine Hilfe zugesagt hätte.

Kurz darauf versammelten sich alle Geister zum gemeinschaftlichen Tanz, und Sayadio sah seine Schwester wie einen Schatten an ihm vorbeifliegen und verschwinden. Nun gab ihm Tarenyawago eine medizinene Rassel von großer Gewalt, die drehte er, und gleich erschien sie wieder vor ihm, und zwar so nahe, daß er sie ohne große Mühe festbannen konnte. Er steckte also die Seele in einen neuen Sack und ging damit zu seinen Freunden und Verwandten zurück, die er alle zu einem großen Freudenfest einlud, bei welcher Gelegenheit auch der Körper seiner Schwester vom Totengerüst genommen und die Seele in diesen gesteckt werden sollte.

Als nun alle Vorbereitungen zur Auferstehung getroffen waren, konnte sich ein anwesendes Frauenzimmer doch nicht der Neugierde enthalten, einmal heimlich in den Sack zu gucken, da sie nämlich noch nie eine Seele gesehen hatte. Als aber die Seele merkte, daß der Sack offen war, huschte sie schnell heraus und flog wieder zurück ins Geisterland.

Sayadio wurde darüber so wütend, daß er jene Frau sicherlich umgebracht hätte, wenn ihr Mann ihr nicht beigestanden hätte.

Danach setzte sich Sayadio noch viele Jahre mit geschwärztem Gesicht in seine Hütte, weinte und trauerte und wünschte alle neugierigen Frauen in die kälteste Hölle.

Quelle: Karl Knortz, Märchen und Sagen der Indianer Nordamerikas, Jena 1871, Nr 73