DAS AGNESBRÜNNL
Von Margarete Lassi vulgo Morgane
"Wird Zeit, dass ich den Dachboden einmal aufräume, höchste
Zeit!"
Die ältere Dame, sehr zart, um nicht zu sagen ätherisch, steigt
entschlossen die steile Treppe empor. Nach dem Tod ihres Ehemannes, der
sie lange Zeit wie versteinert zurückgelassen hat, wird das die erste
Handlung sein, die sie wieder ins Leben zurückbringt. Aufräumen.
Etwas handfest Irdisches, etwas, das einen im Hier und Jetzt verankert.
Genau das Richtige in ihrer Situation, gleichzeitig auch eine letzte Frist,
um noch ein wenig in der Vergangenheit zu verweilen, bei den Schatten,
die doch so viel mehr Wirklichkeit für sie haben, als alle Dinge
ihres verwaisten Heute. Sie hebt den Deckel einer verstaubten Pappschachtel
auf, und vergangene Begebenheiten treten ans Licht wie geisterhafte Schatten,
gewinnen mehr und mehr an Substanz, die sich nährt aus Erinnerung,
werden endlich lebendig, sind auferstanden. Aus einer brüchig gewordenen
Brieftasche fällt etwas Trockenes, Dünnes, ein Blatt, ein Buchenblatt,
wie seine Form erkennen lässt. Unendlich vorsichtig, wie einen kostbaren,
unersetzlichen Schatz hebt die alte Dame das welke Blatt auf. In dieser
Bewegung fallen all die Jahre in sich zusammen wie Staub, und das Blatt
wird zur einzigen, strahlenden Realität. In ihm verdichtet sich das
Leben der einsamen Frau zur kostbaren Essenz. Strahlend und gegenwärtig
steht der Tag vor ihrem inneren Auge, der Tag vor wieviel Jahren eigentlich?
Vierzig, fünfzig, ja, fünfzig Jahre, vor einer Ewigkeit und
gleichzeitig jetzt. Damals, als sie jung waren, herrlich jung und noch
so viele, ungezählte Wege in die ferne Zukunft führten, damals,
an diesem denkwürdigen Sonntag.........
"Nun mal ehrlich, mein Mädchen, jeden Sonntag so herumgammeln,
spät aufstehen, lang frühstücken, dann vor dem Fernseher
oder ins Kino, das bringt es doch auch nicht. Lass uns doch einmal was
ganz Anderes machen, was richtig Irres! Was? Na, zum Beispiel einen richtig
altmodischen Sonntagsausflug. Die Vespa lassen wir auf dem Parkplatz stehen,
und dann wandern wir. Ich kann mich noch erinnern, früher, mit Mama
und Papa, jeden Sonntag hinaus ins Grüne. Na ja, damals hab' ich
das ziemlich öde gefunden, aber jetzt......wär mal der ultimative
Kick, was meinst du? Ob ich das ernst meine? Aber ja, natürlich.
Wohin? Was hältst du vom Wienerwald? Vielleicht da hinauf auf den
Kobenzl und dann der Weg zur Jägerwiese, Mittagessen auf der Terasse....Ja,
ich weiss, spiessige Familien mit quengelnden Kleinkindern, saturierte
Pensionisten in Wanderuniform, aber das ist ja gerade das Exotische daran!
Kannst es ansehen wie eine Expedition in unerforschte Gebiete. Weisse
Flecken auf der Landkarte unseres Zusammenlebens. Na, was ist, wollen
wir?"
Dieses, zugegebenermassen etwas einseitige Gespräch, findet statt
am 12. September 2002, in einer kleinen Substandardwohnung in Gürtelnähe.
Sie wird bewohnt von Karl Köhler, einem Studenten der Medizin im
neunten Semester und seiner Freundin Agnes Brünnlmeier, Studentin
des Konservatoriums, Abteilung Tanz. Die materiellen Lebensumstände
der beiden sind ziemlich beengt, um nicht zu sagen kärglich. Jedoch
Liebe und jugendlicher Idealismus polstern die Ecken und Kanten ihres
Daseins behaglich aus. Karl steht, wie man zu sagen pflegt, mit beiden
Beinen fest im Leben. Er weiss, was er will und wie er es erreichen kann.
Er arbeitet hart, für sein Studium und auch in seinem Job in einer
Pizzeria. Die Beine von Agnes aber tanzen lieber, bewegen sich in Sprüngen
und Pirouetten, träumen vom Fliegen, so wie ihre Gedanken. Ihrem
zarten, ätherisch wirkenden Leib sieht man nicht an, wie zäh
er ist, wie ausdauernd er im Training seine Pflicht tut. Die beiden Liebenden
könnten verschiedener nicht sein. Aber, heisst es nicht, Gegensätze
ziehen einander an? Nun, in ihrem Fall trifft diese banale Aussage zu,
voll und ganz.
Der nächste Tag ist ein Sonntag, und er beginnt ganz und gar unsonntäglich,
nämlich um acht Uhr morgens. Ansonsten aber verhält er sich
dem Anlass angemessen: septemberklarer Himmel, herzerwärmender Sonnenschein,
in der Luft eine Ahnung von Reife und Ernte. Agnes, Agi gerufen, hebt
ihr hübsches Näschen und schnuppert kurz. Dieser Duft, irgendwie
vertraut, wie eine verschüttete Erinnerung,.....Wiese, Wald, vertraute
Stimmen, Geruch nach Erde und welkem Laub. Wie in Gedanken greift sie
an ihren Hals, wo ihr Medaillon hängt, ein altes Erbstück. Es
ist ein zartes, kleines Kränzchen aus Gold, fein ausgearbeitetes
Buchenlaub. Gleich darauf ist alles wieder wie sonst. Niemals dagewesen,
Einbildung wohl.
Die Fahrt verläuft schweigend. Die Motorradhelme machen eine Unterhaltung ohnedies unmöglich. Die Vespa der beiden rattert durch sonntagsverödete Strassen, Geisterstadt. Dann Villenvorstadt, fin de siecle, grossbürgerliche Vergangenheit, durchsetzt mit Heurigenschenken, das Wien, das man den Touristen serviert. Dann langsam Serpentinen empor durch einen sich eben zu färben beginnenden Wald, immer wieder öffnen sich neue Ausblicke auf die im Morgendunst friedlich daliegende Stadt. Auf dem Parkplatz sind sie fast alleine, abgesehen von vereinzelten Joggern, die ihnen jetzt schon entgegenkommen, zurückkehren von ihrem morgendlichen Lauf.
Der Weg liegt vor Agi und Karl wie eine stumme Einladung, einzutreten in die Stille, in eine Welt, in der andere Gesetze gelten als draussen, wo sie herkommen. Hier sind sie Besucher, willkommen, aber eben nur Gäste. Agi findet zunehmend Gefallen an ihrem Unternehmen. Das war wirklich eine gute Idee von dir",meint sie schelmisch lachend, "manchmal findet eben auch ein blindes Huhn ein Körnchen!" Karls Antwort ist ein zärtlicher Klaps auf Agis wohlgeformtes Hinterteil usw., die allseits bekannten und auf andere oftmals recht albern wirkenden Spielchen Verliebter, man kennt sie ja.
Hand in Hand wandern Karl und Agnes durch den spätsommerlichen Wald.
Es ist still, nicht so, wie im Frühling, wenn hunderttausende Vogelstimmen
durch die Bäume schallen. Nur manchmal raschelt es im Unterholz,
Licht und Schatten, Bewegung der Blätter, wiegende Baumkronen, Frieden.
Später erreichen sie die Jägerwiese. Noch ist wenig Betrieb
hier. Nur einige, wenige Gäste sitzen auf der Terrasse bei Kaffe
oder Erfrischungsgetränken und blinzeln schläfrig in die Vormittagssonne.
Nach und nach aber belebt sich Wiese und Terasse. Es geht auf Mittag zu.
"Lass uns jetzt eine Kleinigkeit essen, und dann verschwinden wir
von hier", schlägt Karl vor, "bevor der Betrieb losgeht."
Das tun sie dann auch, genüsslich und mit viel Appetit. "Und?
Wohin jetzt?" Unschlüssig sieht Agnes sich um. Da, ein Wegweiser,
mal sehen, wohin es da geht. "He, das finde ich aber lustig! Hier
geht es zu einem Agnesbrünnl. Da müssen wir unbedingt hin, komm,
Karl!" Der Weg führt wieder in den Wald. Er neigt sich jetzt
sanft abwärts. Schatten umfängt die beiden, und er kommt nicht
nur von den dichten Baumkronen. Irgendwie scheint er auch aus dem Boden
zu steigen, die kühle Luft zu durchdringen und auf eine schwer bestimmbare
Weise auch das Gemüt. Nicht angsterregend oder etwa bedrückend
nein, nur auf eine seltsame Art ehrfurchtgebietend, als träte man
ein in ein fremdartiges Sanktuarium. Leises Plätschern untermalt
die Stille. An einer Biegung des Weges wird es nur ein wenig lauter. Ein
dünner Wasserstrahl, eher ein Rinnsal zu nennen, ergiesst sich in
ein steinernes Quellbecken, umrahmt von Moos und modrigem Laub. Seltsam,
gleich neben der sonnigen, belebten Wiese, der Welt von lachenden Kindern,
Familien beim Mittagessen, gemütlich spazierenden Pensionisten, dieses
geheimnisvolle Reich aus Stille und Zwielicht. Welch ein Gegensatz! Wie
ein leiser, aber zwingender Ruf dringt es ans innere Ohr der beiden Liebenden.
Ohne sich abgesprochen zu haben, setzen sich beide gleichzeitig auf den
steinernen Rand des Brünnls uns blicken versonnen auf den Wasserspiegel,
der sich nur hin und wieder in der leichten Brise kräuselt. Ein hypnotischer
Bann scheint von ihm auszugehen, dem sich weder Karl noch Agnes entziehen
können........oder wollen? Einerlei, gleichgültig, der Zauber
wirkt, wie auch immer er gewoben wurde. Die Zeit versinkt, die Welt hält
an. Ein weisslicher Schleier trübt die glasklare Wasserfläche.
Und dann.............erscheint ein Gesicht. Es steigt auf aus dem Wasser
des Brünnls......oder aus den Tiefen der Seelen von Agnes und Karl.
Wer kann das schon sagen? Es ist auch nicht wichtig. Nichts ist mehr wichtig,
nichts in dieser Welt und in dieser Zeit. Denn die Gestalt winkt, und
die junge Frau und ihr Geliebter folgen dem Wink.
Sie folgen der durchscheinenden Gestalt tiefer hinein in den Wald.
Da steht sie auch schon, die alte Hütte, heimelig und vertraut seit.......wann?
Nun, seit jeher, was sonst? Hier sind sie aufgewachsen. Hier leben ihre
Eltern. Nein, Karls Eltern, um genau zu sein. Agnes ist eine Waise, an
Kindesstatt aufgenommen von den armen Köhlersleuten, als diese sie
damals im Wald ausgesetzt gefunden hatten, damals vor neunzehn Jahren,
an einem Frühlingstag des Jahres 1664. Agnes hätte oftmals gerne
gewusst, wer ihre leiblichen Eltern sind, aber das würde sie wohl
niemals erfahren. Nur das goldene Medaillon, ein fein ausgearbeitetes
Kränzchen aus Buchenlaub, liess auf eine Herkunft aus besserer Familie
schliessen. Es war alles gewesen, was sie damals, ausser Windeln und Hemdchen
am Leib getragen hatte.
Heute aber hat Agnes andere Sorgen. Karl. Am Morgen ist er in den Wald gegangen, um seinem Vater am Meiler zur Hand zu gehen. Als er am Mittag zum Essen heimkam, war sein Verhalten so seltsam verändert, verträumt und zerstreut, wie es sonst niemals seine Art war. "Karl, was hast du? Was ist dir zugestossen", fragte Agnes erstaunt. Aber Karl antwortete nur ausweichend und unwillig. Da schwieg Agnes verletzt. Nun will er gar weg, weg aus ihrem Wald, hinaus in die grosse Stadt! Er redet wirres Zeug von Kampf gegen die Türken und Tapferkeit, Ruhm und Ehre, lauter Worte, die in Agnes' verwirrtem Kopf klingeln wie Narrenglöckchen. Er hat auch ein Schwert und sogar einen Brustpanzer! Woher nur? Eine wunderschöne Dame sei ihm im Wald begegnet, und die habe ihm diese Dinge gegeben, sagt er. Seltsame Dinge geschehen hier im Wald, und ein anderer Wind kommt auf, er riecht nach Veränderung. Was wird er bringen? Für Agnes bringt er Trennung, und Trennung tut weh. Sie strebt nicht nach Ruhm und Reichtum. Sie liebt den Wald und seine Geschöpfe, vor allem aber liebt sie Karl, möchte ihn nicht ziehen lassen. Womöglich kehrt er niemals wieder, wird im Kampf getötet? Ihre schönen Augen füllen sich mit Tränen, aber sie wendet sich ab, damit Karl sie nicht sieht. Sie wird ihn nicht von seinem Glück abhalten, denn sie liebt ihn. Ja, so ist das mit der Liebe zwischen zwei Menschen, einer liebt immer mehr als der andere, und das Schicksal dieses Liebenden ist Leid. Dann aber, nachdem Karl endgültig gegangen ist, dann fliessen ihre Tränen ungehemmt. Mutter und Vater versuchen, ihr Trost zuzusprechen, obwohl die beiden, zornig und traurig zugleich, ihn selbst brauchen würden. "Karl, ach Karl, warum verlangen unsere Herzen nach so verschiedenen Wegen? Warum kann es nicht so bleiben, wie bisher, verborgenes Glück, ein Leben in der Unschuld der Kreaturen des Waldes?" Das kann nicht sein, Agnes, denn du bist ein Feenkind, dein Leben erfüllt sich mit dem Seufzen des Windes in den Bäumen, mit dem Spiel der Blätter im Sonnenlicht, mit dem Flüstern und Raunen der Quellen. Du kennst nicht das Sehnen in den Herzen der Erdgeborenen, das nach der Erfüllung ihres Wesens im Kampf da draussen strebt, da draussen, bei den Ihren.
Und so bleibt Agnes allein, allein bei Bäumen, Wind und Quellen. Alleine aber ist eine wie sie niemals. Zu sehr ist sie in allem, was sie umgibt, und alles ist in ihr. Ihr menschlicher Anteil, ihr väterliches Erbteil aber verlangt nach anderen Menschen, nach e i n e m anderen Menschen, nach Karl und grämt sich.
Jahre vergehen. Keine Kunde von Karl dringt in das abgeschiedene Waldrefugium. Dann aber ist er eines Tages wieder da. "Karl!" Überströmend vor Freude und Glück wirft sich Agnes dem Wiedergekehrten an die Brust. Diese ist breiter geworden, kräftig und hart seine Arme, die er um Agnes legt, kostbar sein Gewand. "Agnes, liebe Agnes!" sagt er zärtlich. Seine Augen aber sprechen nicht die Sprache des Glückes und der wiedergefundenen Liebe. Seltsam unruhig sind sie und ausweichend ihr Blick. Still entlässt Agnes Karl aus ihrer Umarmung. Sie weiss die Botschaft seines Blickes richtig zu deuten. Sie heisst: "Ich bin wohl wiedergekehrt, aber nicht zu dir und unserer Liebe. Eine Andere wohnt jetzt in meinem Herzen, eine Schöne und Stolze, eine von meiner Art. Was einmal war, Zeit der Kindheit und Unschuld im Wald, ist vorbei. Mein Leben ist jetzt da draussen." Er ist gekommen, um Eltern und Ziehschwester zu sich zu holen, in seinen prächtigen Palast. Den hat er sich erworben durch Tapferkeit im Kampf gegen die Türken. Er ist jetzt ein Adeliger, und seine Familie soll sein Glück mit ihm teilen. Eltern wissen sich gar nicht zu fassen. So soll nun Reichtum bei ihnen einkehren, nach all den Jahren harter Arbeit und karger Kost? Aber die Stadt, mit all dem Trubel und den vielen, gedrängt wohnenden Menschen! Wie sollen sie beiden Alten sich dort noch eingewöhnen? "Nein, lieber Sohn, wir freuen uns für dich, dass du dein Glück gemacht hast. Unser Platz aber ist hier, du verzeihst wohl? Aber Agnes ist noch jung. Sicher findest du einen reichen und freundlichen Mann für sie in der Stadt. Sie soll mit dir gehen. Agnes?" Wo ist Agnes denn nur? Leise hat sie das Haus verlassen. All die Jahre hat sie immer noch gehofft, nun aber ist all ihre Hoffnung gestorben. Jetzt will auch sie sterben. Wie aber stirbt eine aus der Familie der Feen? Ihr Wesen löst sich auf in Wind und Blätterrauschen, in Mondenlicht und Quellenmurmeln, in Vogelgesang und Grillengezirp. Auch ihre Liebe stirbt nicht. Sie nährt die Erde, das Wasser, den Wind.......und alle Menschen, die still an diesem Platz verharren, an dem Platz, an welchem die Quelle noch heute sprudelt, dem Agnesbrünnl.
"He, ist ja irre, ich bin anscheinend eingeschlafen! Agi? He, Agi,
was is'n los mit dir, bist ja auch ganz weggetreten! Irgendwas hab' ich
auch geträumt.........seltsame Geschichte, ich kann es garnicht mehr
richtig auf die Reihe kriegen........irgendwas mit Türkenkrieg. Erst
war ich ein Köhlerjunge hier im Wald und dann ein reicher Macker.
Komisch, muss der Platz hier sein, der hat was Eigenes, findest du nicht
auch? Agi, hast du deine Zunge verschluckt? Sag doch was!"
Schweigen. Lange kann Agi nichts sagen. Dann wendet sie sich Karl zu und
greift nach ihrem Medaillon. Mühsam sucht sie nach Worten:
"Bin ich in deinem Traum auch vorgekommen, Karl?"
"Ja, du warst.......warte mal, ja, ich erinnere mich, du warst meine Ziehschwester und dieses Medaillon........Agi!"
"Ich weiss, ich hatte den gleichen Traum. Du bist in den Türkenkrieg
gezogen und hast mich dann vergessen. Dann hast du eine Andere geheiratet
und ich bin gestorben vor lauter Trauer. Seltsam, ich spüre das Gefühl
jetzt noch ganz deutlich.....Und die Gestalt, so eine Art Fee oder was,
die hat mir im Traum das Medaillon gegeben. Sehr verworrene Geschichte,
wenn du mich fragst. Aber, dass wir beide diesen Traum geträumt haben,
schon komisch, nicht? Aber, wenn ich ehrlich bin, irgendwie hab' ich immer
schon so eine seltsame Verbundenheit gespürt mit Wald und Bäumen
und so. Na ja, wird Zeit, dass wir gehen. Es wird sicher bald dunkel.
Ich hätte nie geglaubt, dass wir so lange hier gewesen sind!"
Leise plätschert das Brünnl, als wollte es den beiden Liebenden
noch etwas Wichtiges sagen. Ein golden gefärbtes Herbstblatt schwebt
wie ein Abschiedsgruss von der mächtigen Buche herab und dreht sich
im Strahl der Quelle langsam im Kreis. Agi greift danach und steckt es
in ihre Brieftasche, als Andenken an diesen Tag.
Sie sollte dieses Andenken all die kommenden Jahre in Ehren halten. Irgendwie schien dieses unscheinbare Blatt eine unerklärliche Kraft zu verströmen, eine Kraft, die es vermochte, Liebe zu erhalten und Liebende zu beschützen. Oftmals, wenn ihre verschiedenen beruflichen Wege sie auseinanderzutreiben drohten, wenn ihre Liebe in Gefahr war, zu zerbrechen oder dahinzuschwinden schien, erhielt sie neue Kraft aus einer unbekannten Quelle. Agi vermutete immer einen geheimnisvollen Zusammenhang zwischen den Ereignissen, damals an dem Brünnl und ihrem gemeinsamen Leben, sprach aber niemals zu Karl über ihre Ahnungen. Sie hütete sie wie einen kostbaren, aber zerbrechlichen Schatz, all die Jahre ihrer schwierigen, aber erfüllenden Ehe.
Quelle: E-Mail-Zusendung von Merlin und Morgane Märchenerzähler, Märchenzauber - Die Mistel, aus dem Waldviertel, 13. April 2004.