DER BAUM DES LEBENS

Von Margarete Lassi vulgo Morgane

Schliesst eure Augen und reist mit mir zurück durch die Zeit, weit zurück ins goldene Land der Sommersterne, als die Menschen sich noch Kinder der Mutter nannten.

Denn war die Erde nicht eine Mutter? Gab sie ihnen nicht ihren Leib, nährte ihn, hielt ihn am Leben, um ihn am Ende wieder zu sich zu nehmen? Sie verstanden die Botschaft der Blumen, der Sprache des Laubes und der Gräser. Sie alle starben im Herbst, aber im Frühling kehrten sie wieder, neu, erfrischt und lebendig. Sie verstanden auch die Sprache ihrer Brüder, der Tiere, die voller Liebe ihre Leiber mit den Leibern ihrer menschlichen Geschwister vermischten, um sie am Leben zu erhalten. Damals gab es noch keine Worte für Besitz und Krieg.

Weit hinten, am Ende eines Talkessels erhoben sich bewaldete Bergkuppen aus dem Flusstal. Auf dem höchsten von ihnen wohnte eine mächtige Königin. Sie war taufrisch wie das junge Gras, wenn der Schnee des Winters schmolz. Sie war blühend und üppig in ihrer sommerlichen Schönheit, wenn sie Hochzeit hielt mit ihrem Gefährten, dem Herren des Waldes. Sie schimmerte zart und melancholisch in den Nebeln des Herbstes, und sie hüllte sich in eisiges Schweigen, wenn die Winterstürme durch den Talkessel fegten wie heulende Wölfe. Sie hob gebietend ihre Hände, und die Sonne erschien am Morgen. Der magische Klang ihrer Stimme liess den Mond schwinden und vergehen. Wenn sie tanzte, füllten sich Flüsse und Bäche mit lebensspendendem Wasser. Wenn sie aber einen ihrer schrillen Schreie hören liess, dann rüsteten die Alten und Kranken sich, um heimzukehren ins Innere des Berges, ihren Palast. Das kleine, dunkelhaarige Volk im Tal gedieh und ehrte seine Königin, welche unter den Menschen "Perahta", die Strahlende hiess, und es gedieh der Baum des Lebens, der in dem Tal seine mächtigen Zweige breitete.

Das hätte so sein können bis heute, aber, die Zeiten ändern sich und die Gedanken der Menschen. Eines Tages entdeckte ein fremdes Volk das stille Tal, Grossgewachsen, hellhaarig und hellhäutig und......angeführt von einem König. Seine Männer trugen Speere und seltsame, grosse Schüsseln vor dem Leib. Verblüffung und Belustigung machten sich breit unter den Bewohnern des Tales. Die Fremden mussten doch alles verschütten, wenn sie die Schüsseln so trugen, wie sie es taten! Aber des Staunens war kein Ende, denn der Anführer wollte doch allen Ernstes wissen, wem dieses Tal gehörte! "Gehört", ein äusserst seltsames Wort, das
keiner von ihnen je "gehört"hatte.

"Meinst du das Zwitschern der Vögel, das Murmeln des Baches, das Rauschen des Windes oder den Gesang unserer Königin, wenn sie den vollen Mond heraufruft aus dem Dunkel hinter den Bergen?" fragten sie erstaunt. Aber der fremde König meinte etwas ganz Anderes mit diesem Wort, das wurde ihnen bald klar. Er beanspruchte die Weidegründe für seine Herde, ja, er beanspruchte auch die Herde des Volkes, seine Feuerstellen, seine Speere, ja, sogar seine Töchter für sich! Dabei wäre im Tal doch Raum und Nahrung für sie alle gewesen! Zuletzt verbot er die Dankgeschenke, die Lieder und Tänze zu Ehren von Perahta, der Mächtigen der Berge. Er liess aus dem Baum des Lebens ein Bildnis zuhauen, das ihm erstaunlich ähnlich war und behauptete, dies sei jetzt ihr Gott. Wieder ein solch seltsam unverständliches Wort! Das kleine Volk klagte und trauerte, aber das nützte nichts, die Grossgewachsenen hatten Waffen und Schilde und wussten sie auch zu gebrauchen.

Die Königin sang immer noch, sie tanzte und gebot dem Mond und den Sternen, wenn auch die Menschen diese Wunder jetzt dem neuen, kriegerischen Gott zuschrieben. Nach und nach verlernten sie auch die Sprache der Tiere und der Blumen. Dafür aber lernten sie ein neues Wort: i c h. Dieses I c h war ein mächtiges Zauberwort. Es schied die Menschen von den Dingen. Es setzte die Menschen über die Dinge. Es gebot den Dingen, den I c h s zu dienen. Traurig und vergessen zog sich die einst mächtige Perahta ins Innere der Berge zurück. Der Baum des Lebens verlor langsam ein Blatt nach dem anderen. Das ging langsam, so dass die Menschen es noch nicht merkten. Die aber hatten ein schlechtes Gewissen, weil sie sie nicht mehr verehrten. Sicher war sie sehr zornig und trug ihnen ihren Verrat nach. Man musste sich hüten vor ihr! War sie nicht fürchterlich in ihrem Wüten? Raste sie nicht vor Zorn in den rauhen Stürmen der langen Nächte um die Wintersonnenwende? Verheerte sie nicht mit Eis und Schneemassen das stille Tal, strafte seine Bewohner mit Hunger und Kälte, hatte vielleicht am Ende gar die Sonne verschluckt? Die Menschen schnitzten wilde Fratzen und tanzten damit lärmend ums Feuer: "Ha, dir werden wir's zeigen, du hässliche alte Vettel, wir fürchten uns gar nicht, sieh nur her! Wir vertreiben deinen Schrecken und jagen dir Furcht ein. Vielleicht spuckst du vor lauter Schreck ja die Sonne wieder aus, und es wird Frühling!"

Ja, so ging es, und die Welt drehte sich weiter, ein ums andere Mal. Städte wuchsen ins Land wie wuchernde Geschwüre, Maschinen dröhnten den Gesang der Vögel nieder, die Musik der Bäche wurde zerhackt von tausenden Turbinen, und die Menschen wollten ihre einstigen Geschwister nur mehr als Kotelett auf dem Teller lieben oder als möglichst gleichgrosse Antimatschtomate im Salat. Es ging ihnen ja so gut! Was konnte man schon dagegen tun, wenn die Meere vergiftet, die Luft verschmutzt, die Nahrung totes Essen war? Es gab auch einen neuen Gott. Er forderte ihre ganze Hingabe. Mammon war sein Name, und er kannte kein Pardon. Gefrässig war er auch, und am liebsten frass er Zeit. Er ernährte sich von Stunden und Minuten und forderte alles von seinen Untertanen. Denen blieb kein bisschen davon, um sich am Rauschen des Regens zu erfreuen oder am Singen des Windes im Geäst eines Baumes, am Lächeln eines Kindes oder, um sich zu fragen, wo denn der Gesang der Königin geblieben war und ihr Tanz, der die Sterne kreisen liess. Das Leben floss so schnell dahin, und der Tod war so endgültig. Deshalb lärmten sie noch mehr, um die Angst zu vertreiben. Und sie füllten jede freie Minute mit neuerlicher Arbeit: joggen, Sport, Mountainbiking, Trekking, ...nur ja kein Leerlauf, nur ja nicht den Tod im Nacken fühlen, lauf, schrei, nütze den Tag, nur nicht dem Ungeheuer ins Auge sehen! Und der Baum des Lebens stand fast kahl.......

Eines Tages kam ein junges Liebespärchen auf dem Mountainbike in das immer noch stille Bergtal geradelt fit, durchtrainiert und gut gelaunt, immerhin hatte man schon fünfhundert Höhenmeter geschafft und die Pulsfrequenz gar nicht so übel.....! Heiss ist es, und die Flasche mit dem isotonischen Säftchen auch schon leer! Na gut, dann eben gewöhnliches Wasser! Aber, gib Acht, langsam, du bist erhitzt1 Dann beugen sich beide über das klare, leicht bräunliche Wasser und trinken in langen Zügen.............

Da geschieht es. Niemand kann sagen, ob es das Wasser war oder die Stille im Tal oder ein unsichtbarer Zauber, gebannt an diesen Ort seit undenklicher Zeit. Die Zeit....ja, sie scheint mit einem mal gedehnt wie Kaugummi, wenn man ihn aus dem Mund zieht und die sommerliche Stille singt mit der Stimme des Waldes. Bäume winken mit lebendigen Ästen, und sie tragen Gesichter, knorrig, verrunzelt, alt. Gräser wiegen sich zur Musik des Windes. Sie rufen: "Komm, tanz, es ist der Tanz des Lebens, und du bist dazu eingeladen.....! Und dann ist da eine Stimme, ein Ruf ohne Worte, den beide hören und einander fragend ansehen. Was aber sehen sie? Was sieht der junge Mann? Eine junge, sportgestähle Gestalt in anliegenden Radlerhosen und knallbuntem Trikot? Das auch, ja, aber gleichzeitig oder dahinter oder sonst irgendwie sind da tiefe Augen, in denen sich Galaxien spiralig drehen, ein Mund, geschaffen, um Worte der Macht auszusprechen, Worte, die den Mond heraufholen aus dem Dunkel der Berge oder die Sonne wiederkehren lassen nach einem dunklen Winter, ein schlanker Leib, dessen Tanz die Flüsse mit lebendigem Wasser füllen konnte, der aber auch das Leben gab und es wieder zu sich nahm. Ein junges Mädchen sah er, eine lebensstrotzende Frau und gleichzeitig eine runzlige Alte. Gebannt von diesem Wunder fällt er vor ihr auf die Knie und sieht ehrfurchtsvoll zu dieser Erscheinung auf. Und Worte spricht er, Worte, die er niemals in diesem Leben gehört hat, Worte, fremd und doch gleichzeitig in seinem Inneren eingebrannt seit altersher: " Perahta, Königin, Strahlende, ich grüsse dich!" Dann ist alles wieder vorbei. Alles ist wieder wie vorher und doch.....irgendwie verwandelt. Das Leben kann wieder weitergehen, und doch......Die Königin in ihrem Berg hat es vernommen. Sie erwacht und regt sich. Das lässt die Berge erzittern, die Erde erbeben, die Flüsse aufschäumen, die Meere tosen, die Stürme brausen, das Wetter verrückt spielen. Die Menschen halten inne, sie spüren die Veränderung. Sie fürchten sich. Manche hören leisen Gesang in ihrem Herzen, das Lied der Königin. Und der Baum des Lebens gebiert ein neues Blatt.......

Quelle: E-Mail Zusendung von Merlin und Morgane Märchenerzähler, Märchenzauber - Die Mistel, aus dem Waldviertel, 13. April 2004.