DAS ANDERE LAND
Von Margarete Lassi vulgo Morgane
Wieder war es Winter geworden. Diesmal einer mit viel Schnee, so wie
es früher einmal gewesen war, früher, in den sagenhaften Zeiten,
von welchen die Eltern und Grosseltern immer sprachen wie von einem längstversunkenen
Paradies.
Aber seltsam, jetzt murrten die Erwachsenen über verschneite Autos,
matschige Gehsteige und hohe Heizkosten, und die Älteren zwickte
die Kälte gewaltig in den rheumatischen Gelenken. Die Kinder aber
betrachteten den Schnee als ihr eigentliches, wahres Weihnachtsgeschenk,
eines, das ihnen buchstäblich vom Himmel gesandt worden war.
Seppi, gerade eben sieben Jahre alt geworden und seine jüngere Schwester
Anna hatten zwei grosse Plastikschüsseln zum Rutschen unter dem Weihnachtsbaum
gefunden. Anna meinte, das Christkind habe sich vorher mit der Frau Holle
genau abgesprochen, damit für die Rodeln auch genügend Schnee
vorhanden sein würde. Sie war sehr zufrieden mit den Beiden. Und
nun waren alle Kinder des Dorfes hinten, beim Hüterbergl versammelt
und rodelten und rutschten, dass es eine Freude war. Auf dem Hüterbergl
gab es ein kleines Wäldchen aus Kiefern, Birken und einigen, wenigen,
uralten Eichen, so alt, dass sich keiner mehr erinnerte, sie jemals anders
als riesengross gesehen zu haben, auch nicht die Grossmütter und
Grossväter, nicht einmal mehr die Urgrossmütter und Urgrossväter.
Und die waren doch auch wirklich uralt, oder? Manche Kinder behaupteten
hinter vorgehaltener Hand, beim Hüterbergwäldchen gehe es nicht
mit rechten Dingen zu, es spuke, sagten sie. Anna wunderte sich sehr,
sie sah überhaupt keine Spucke, nirgendwo. Aber Seppi, ganz kluger
älterer Bruder, erklärte, das sei eben Geisterspucke, und die
könne man nicht sehen. Diese Erklärung fand Anna nicht wirklich
zufriedenstellend, aber mit Geistern kannte sie sich nicht aus. Sie nahm
sich insgeheim vor, die Grossmutter darüber zu befragen.
Die Buben konnten noch immer nicht genug kriegen vom Auf und Ab auf dem
kleinen Hügel. Anna aber wollte schon heim, sie fror gottserbärmlich.
Sie nahm ihre Rodelschüssel unter den Arm und stapfte auf ihr naheliegendes
Haus zu. Da sah sie, zu ihren Füssen im Schnee einige kleine, braune
Becherchen liegen. Sie wusste, das waren Eichelbecher, die Fruchthüllen
der Eicheln. Im Herbst war sie einmal hiergewesen, und da hatten mindestens
hundert Millionen davon im Gras gelegen. Damals hatte sie nur ganz viele
Eicheln gesammelt, für den Kindergarten. Dort wollte sie mit Hilfe
ihrer Kindergärtnerin einen Eicheltier - Zoo basteln. Aber heute,
heute schienen die kleinen Becherchen genau richtig als Hüte für
ihre Playmobil - Männchen, vielleicht auch als Teetassen für
ihre Barbiepuppe? Schnell sammelte Anna alle Becherchen ein und steckte
sie in den Sack ihres Schneeanzugs. Dabei stülpte sich ein Eichelbecherchen
wie von selbst über ihren Mittelfinger. Er passte genau, wie der
rote Fingerhut, den Mama immer zum Nähen über ihren Finger stülpte.
Aber der war Anna viel zu gross. Jetzt hatte sie auch einen, einen eigenen
Fingerhut!
So, jetzt war es aber wirklich höchste Zeit, heimzugehen. Aber, was
war das? Anna konnte das Haus nicht mehr sehen. Aber, es war doch genau
da vorne, gleich neben dem Rodelhügel, sonst hätte Mama sie
nicht alleine herkommen lassen! Hier aber waren überhaupt keine Häuser,
kein einziges mehr. Das war doch unmöglich, ein ganzes Dorf konnte
doch nicht von einem Augenblick auf den anderen verschwinden! Und überhaupt,
wo war denn der ganze Schnee plötzlich hingekommen? Die Eichen trugen
mit einem Mal üppiges, grünes Laub, das Gras war grün,
die Vögel sangen, und nirgends war etwas von Seppi und seinen Freunden
zu sehen. Anna fürchtete sich sehr. Es stimmte also doch, das mit
der Geisterspucke! Und nun war sie hier, ganz allein, in dieser fremden
Umgebung, ganz ohne Seppi, ganz ohne Mama und Papa, ganz ohne Grossmutter
und Grossvater, ganz alleine! Da kam ganz aus heiterem Himmel ein kalter
Wind auf und blies das grüne Laub mit einem Hui von den Eichen. Es
wurde fast ganz finster. Überall schienen glitzernde Augen aus dem
Geäst zu funkeln. Ja, sie beobachteten sie. Sicher würden gleich
irgendwelche Ungeheuer hervorstürzen, und die würden sie sicherlich
auffressen oder irgendwas ganz Fürchterliches mit ihr anstellen!
Anna kauerte sich zusammen, ganz klein, und dann begann sie vor Angst
zu weinen.
"Mama, komm, bitte, komm' und hol' mich! Maaaammmaaaa!"
"Rinsel - pinsel, was für ein Gewinsel", sagte da ein da
ein zartes, feines Stimmchen neben Anna.
Die hob erstaunt den Kopf und vergass vor lauter Überraschung ganz
aufs Weinen. Sie blickte direkt in grosse, goldglänzende Augen. Die
Augen waren fast das Grösste in dem kleinen, zarten Gesichtchen.
Das gehörte einem winzigen Kerlchen mit spitzen Ohren und einem grünen
Gewand, das Anna gerade eben bis zu den Schultern reichte, und Anna konnte
nicht gerade als grossgewachsen bezeichnet werden. In ihrer Kindergartengruppe
gehörte sie zu den Kleinen, obwohl sie schon fünf Jahre alt
war und nächstes Jahr in die Schule gehen sollte.
"Du schnell aufhören mit Gewinsel, du nicht mehr Angst, du binse wieder froh!"
"Wer bist du, und wo bin ich hier, und wieso redest du so komisch?" fragte Anna verwundert.
"Ich nix sprichse komisch, ich sprichse Wichtelsprich. Ich binse Ilberich. Du binse in Wichtelland, daheim bei mich. Und bitte nicht mehr winsel, bitt, bitt."
Das hörte sich so komisch an, dass Anna für einen Moment ganz
auf ihre Angst vergass und lauthals herauslachte. Gleich darauf schämte
sie sich. Sie wollte das kleine Kerlchen nicht kränken. Mama sagte
immer, jemanden auszulachen, sei ganz schlimm und ausserdem dumm. Aber
sie fürchtete sich jedenfalls nicht mehr, das war schon etwas. Und
sie bemerkte gleich darauf wieder eine Veränderung. Es war wieder
hell, und an den Bäumen spross zartes, grünes Laub. Was, zum
Donnerdrummel, ging hier eigentlich vor? Ilberich nahm Anna an der Hand
und führte sie zu dem kleinen Hügel, der genauso aussah, wie
das Hüterbergl zuhause. Er steckte zwei Finger in den Mund und tat
einen lauten Pfiff. Daraufhin öffnete sich ein kleines Türchen.
Seltsam, es war vorher sicher noch nicht dagewesen, das hätte Anna
beschwören können! Es musste eine Behausung sein. Und so war
es auch. Aus der Türe trat eine rundliche Frau. Sie trug ein Kleid
im gleichen Grün wie das Gewand von Ilmerich, und sie war ebenso
klein wie er. Freundlich lächelnd bat sie Anna in ihr Haus. Sowas!
Das war ja allerliebst! Hier drinnen standen kleine Bänke, mit Moos
weich gepolstert, ein winziger Tisch, der war fein gedeckt mit allerlei
Speisen, die Anna sehr fremd vorkamen. Die Frau klatschte in die Hände.
Da kamen fünf Wichtelkinder zur Tür herein. Sie kicherten und
zupften neugierig an Annas Gewand, bis sie von ihrer Mutter freundlich
aber bestimmt zur Ordnung gerufen wurden.
"Kinder, sagse guten Tag zu unsere Gast und benimmse euch!"
Jedes der Kinder machte eine tiefe Verbeugung vor Anna und stellte sich
vor:
Alberich, Elberich, Olberich, das waren die Knaben und Albera und Elbera
die beiden Mädchen.
Dann ging's zu Tisch. Die fremden Speisen schmeckten wunderbar, machten
satt und warm....und anscheinend fröhlich, denn die Wichtelfamilie
holte allerliebste kleine Instrumente hervor und begann lustige Tanzweisen
zu spielen, die Anna Lust zum Tanzen und Springen machten.
Mit einem Mal aber erstarb die Musik. Es wurde dunkel und bitter kalt
im Raum. Die Wichtel hüllten sich und ihren Gast in warme Decken
und entzündeten Kerzen und ein Feuer im Kamin. Alle drängten
sich ängstlich zusammen. Draussen heulte der Sturm wie ein wildgewordener
Drache. Was in aller Welt war das denn nur, so von einem Augenblick zum
anderen? Das war ja furchterregend!
Mama Wichtel nickte verständnisvoll:
"Isse ganz often, Wichtel kennse das schon. Kommse aus Riesenland."
Auf Annas fragenden Blick reichte sie dem Mädchen ein Holzstück mit einem Astloch und hiess es durchsehen. Aber......was.....was war das? Das konnte doch nicht sein! Anna blickte direkt in ihre Wohnstube daheim. Da sassen ihre Eltern und die Grosseltern. Alle vier schienen sehr ungehalten zu sein. Vater schimpfte mit Seppi:
"Wo ist deine kleine Schwester? Du solltest doch auf sie Acht geben! Kann man sich denn gar nicht auf dich verlassen?"
"Oh je", rief Anna voller Schrecken aus, "ich hab' ganz
vergessen auf daheim, die machen sich jetzt schon Sorgen um mich. Und
dabei kann der Seppi ja gar nichts dafür! Ich muss schnell wieder
nachhause!"
Alle Wichtel sahen Anna erwartungsvoll an. Was wollten sie nur von ihr?
Dann sagte Ilberich, der Wichtelvater ernst:
"Du binse aus Riesenland. Riesenland isse gleich neben Wichtelland, ganz nah. Riesen machse Wetter in Wichtelland. Wennse Riesen böse oder traurig, wennse Riesen streit, dannse Wetter in Wichtelland kalt und dunkel, duse wiss?"
So war das also! Wer hätte so etwas gedacht! Unglaublich!
"Wirse haben hergeholt dichse, duse muss wissen, was Riesen mach mit Wichtelland, wenn böse sind."
Das war ja eine schöne Bescherung. Sie, die Menschen waren zuständig
für das Wetter im Wichtelreich! Anna musste das sofort daheim erzählen.
Aber, würden sie ihr das glauben? Würden sie nicht sagen: ach,
du hast zuviel Phantasie! Ja, gewiss, das würden sie, das sagten
sie oft. Trotzdem. Sie musste es zumindest versuchen. Das war sie ihren
neuen Freunden einfach schuldig.
Wie Anna wieder nachhause kam? Sie zog einfach den Eichelbecher wieder
vom Finger, und da war sie.
Quelle: E-Mail-Zusendung von Merlin
und Morgane Märchenerzähler, Märchenzauber
- Die Mistel, aus dem Waldviertel, 8.
Jänner 2003.