Die kleine Wolke


von Reinhard Güll

Es war einmal eine kleine Wolke. Die kleine Wolke war noch sehr jung, gerade mal fünf Tage alt. Geboren wurde sie aus dem Frühnebel der Wiesentäler und dem Dunst der Waldseen. Bisher war sie einsam am blauen Himmel von leichten Windstößen hin und her getrieben worden. Doch nach einiger Zeit traf sie viele Verwandte. Dicke, schwer mit Regen beladene Wolken begrüßten sie und stellten sich als ihre Tanten vor. „Komm mit uns nach Norden! Dort hat es lange nicht geregnet. Wir wollen die Erde durch unseren Regen befeuchten, damit alle Menschen, Tiere und Pflanzen wieder genügend zu trinken haben. Beim Wind haben wir schon die entsprechende Reise gebucht, du musst dich uns nur anschließen.“ Die kleine Wolke war so froh über die Gesellschaft der anderen Wolken, dass sie, ohne zu zögern, mit ihnen nach Norden zog. Der Südwind tat sein Bestes. Flink trieb er die große Wolkenansammlung nach Norden, in jene Länder, die seit Wochen unter starker Trockenheit litten. Alles drohte zu verdursten. Sehnsüchtig warteten die Menschen auf Regen. Die Tanten der kleinen Wolke waren so reichlich mit Regen beladen, dass sie binnen weniger Stunden die verdörrte Landschaft in ein neues Blütenmeer verwandelten. Nur die kleine Wolke war traurig, sie war zu zart und durchsichtig, um auch nur einige Regentropfen abgeben zu können. Sie schämte sich sehr. Heimlich ließ sie sich von einem kleinen Windstoß nach Süden treiben. Wieder war sie allein und einsam.

Immer weiter trieb es die kleine Wolke nach Süden. Sie flog über die Nordsee hin zum Atlantik und von dort zum Südpol. Zum ersten Mal in ihrem Leben sah sie hier die drolligen Pinguine, die in der ewigen Kälte des Eises ihre Heimat hatten. Auf Dauer war es der kleinen Wolke aber auch hier zu einsam. Mit dem nächsten Windstoß nahm sie wieder Kurs nach Norden auf. Schon bald erreichte sie Australien, wo sie dem putzigen Spiel der Kängurus und Koalabären zuschauen konnte. Kräftige Winde trieben sie hinaus auf den Pazifik. In der endlosen Weite dieses riesigen Ozeans waren einige verspielte Delphine an der Meeresoberfläche ihre einzigen Begleiter. So gelangte die kleine Wolke schließlich nach Nordamerika. Über den weiten Steppen sah sie mächtige Büffel dahin ziehen. In kleinen Gruppen waren sie auf ständiger Wanderschaft. „Sie fühlen sich bestimmt nicht so einsam wie ich!“ dachte die kleine Wolke. Bei diesen Überlegungen wurde die kleine Wolke immer trauriger.

Sie bemerkte gar nicht, dass ein kräftiger Sturmwind sie hinaus in die dichten kalten Nebel des Nordpolarmeeres blies. Die Eisbären mit ihren Jungen, die auf Eisschollen durch das Eismeer schwammen und sich in der nebligen Kälte pudelwohl fühlten, waren von der kleinen Wolke kaum zu erkennen. Die dichten Nebel führten dazu, dass die kleine Wolke immer größer wurde, ohne dass sie es selbst bemerkte. Dicker und dicker blähten die Nebel sie auf.

Der mächtige Nordwind musste sich schon gewaltig anstrengen, sie weiter in Richtung Süden zu bewegen. Nur mit einem starken Sturm gelang es ihm, die ehemals so kleine Wolke zu anderen dicken Wolken zu treiben, die sich über der Nordsee sammelten. Wie glücklich war die Wolke, als sie ihre so lange nicht gesehenen Tanten wieder traf. Freudig folgte sie ihren Aufforderungen: „Komm mit uns zum Festland! Dort hat es lange nicht geregnet. Wir wollen die Erde durch unseren Regen befeuchten, damit alle Menschen, Tiere und Pflanzen wieder genügend zu trinken haben.“ Bald schon hatten sie die trockenen Länder erreicht und ließen es kräftig regnen. Auch die vormals so kleine Wolke gab einen Regenschauer nach dem anderen ab. Es war eine helle Freude, wie sie jauchzte, als sie sah, dass sie endlich zu einer richtigen Wolke geworden war. Von nun an blieb die Wolke immer in der Gesellschaft der anderen und ließ es überall dort regnen, wo sie auf Grund der Trockenheit gebraucht wurde.

Quelle: E-Mail-Zusendung 16. April 2007 von Reinhard Güll aus Lauffen am Neckar.