Wie das Ente-Büsi zu seinem Namen kam
Es ist eine traurige Tatsache, dass der Dreissigjährige Krieg - er
dauerte von 1618 bis 1648 - in so manche Dorfgemeinschaft und Familie
grosse Lücken schlug. Zuerst wurde der konfessionelle Gegensatz zwischen
Katholiken und Protestanten und im Zusammenhang damit der politische Gegensatz
zwischen Kaiser und Reichsständen, später der Kampf um die Vorherrschaft
unter den europäischen Mächten ausgetragen. Massenhinrichtungen
und Überfälle marodierender Soldaten waren an der Tagesordnung.
Die Namen von Heerführern wie Tilly oder Wallenstein erhielten traurige
Berühmtheit.
Das Kriegshandwerk ist immer grausam, verletzt an Leib und Seele, ob es
mit Hellebarden und Musketen, mit Panzern und Tretminen oder nur mit Worten
be-trieben wird. Eines aber ist sicher: Krieg müsste nicht sein,
auf keiner Stufe, nicht in der Familie, nicht im Dorf, nicht zwischen
den Völkern.
Und doch entflammte im beginnenden 17. Jahrhundert auch in einem verschla-fenen Nest in der Ostschweiz ein Kleinkrieg, der die nähere Umgebung lange Zeit in Atem hielt. Zankapfel im Dorf Weieren war ein Fussweg am Rain, dessen Begehen zeitweise einem Spiessrutenlaufen gleichkam. Wer beim Boten- oder Spaziergang von der Wegmitte zu weit nach links abwich, wurde von Müller Scherrer mit harschen Worten zurechtgewiesen. Wer sich eher rechts der Mitte vorwärts bewegte, bekam es mit Hanns Wick, Joachim Wick oder Hans Kuonz zu tun.
Um je die Gegenseite ärgern zu können, zeigte man sich äusserst erfinderisch. So soll Rudolf Scherrer seine Zugkuh, welche er jeweils vor den Müllereiwagen spannte, mehr als einen halben Tag lang im eigenen Grundstück so angebunden haben, dass diese auch auf fremdem Boden jenseits des Fussweges hätte grasen können. Sie bevorzugte aber das Gras ihres Meisters und benutzte den schmalen Pfad und die Nachbarparzelle lediglich zum Versäubern.
Dass nach diesem Vorfall wieder Feuer im Dach war, versteht sich von selbst. Auf die wutentbrannte Gardinenpredigt von Hans Kuonz meinte der Müller lakonisch: "Die Kuh hat dir nur Nachhilfeunterricht geben wollen. Sogar sie hat gemerkt, dass du deine Wiese besser düngen müsstest. Sie hat es an deiner Stelle getan." Damit hatte Scherrer natürlich Öl ins Feuer gegossen und als Folge davon verhärteten sich die Fronten noch mehr.
Auf dem sonntäglichen Spaziergang spie man den Kautabak wissentlich auf die eine oder andere Seite des Fusswegs, warf ein paar Bollensteine in die Wiese oder trampelte das frische Gras nieder, je nach Sympathie für den einen oder anderen der Streithähne. Dass sich so immer mehr Unrat ansammelte, bemerkte jedermann. Nur das Gezanke sollte ja kein Ende finden, denn allmählich war es zur öffentlichen Belustigung gediehen.
Die Leidwercherei hatte schliesslich ein solches Ausmass angenommen, dass die beiden Wick zusammen mit Hans Kuonz eine Lösung des Konflikts nur noch im Gang vors Gericht sahen. Ertragsausfall auf der Wiese, persönliche Beleidigung und Rufschädigung waren nur einige der Anklagepunkte.
Dass Gegensätze nicht unweigerlich zu Zank und Hass führen
müssen, wurde allen Weierer Dorfbewohnern im Garten der Witwe Anna
Hugentobler an der Binzgasse auf eindrückliche Art vor Augen geführt.
Im kleinen Teich vor dem schmucken Häuschen tummelte sich ein halbes
Dutzend Enten. Immer wieder zeigten sie, dass auch das Federvieh den alten
Liedtext kannte: Köpfchen in das Wasser, Schwänzchen in die
Höh'. Ihr fröhliches Geschnatter liess auf Eintracht und Zufriedenheit
schliessen. Doch zu den Enten gesellte sich auch der schwar-ze Kater der
Witwe. Mit der grössten Selbstverständlichkeit bewegte er sich
im Entengehege und löste mit seiner Präsenz überhaupt keine
Panik aus. Jeden Abend watschelten die sechs Stockenten wie im Defilee
an Kater Pinto vorbei und bezogen über das schmale Treppchen ihr
Nachtquartier. Die Katze aber legte sich vor das kleine Türchen,
wie wenn sie gewusst hätte, dass sie für die Si-cherheit der
sechsköpfigen Entenfamilie sorgen müsse.
Das friedliche Zusammenleben strahlte leider nicht weit genug aus, denn
immer wieder lag man sich in Weieren wegen des unseligen Fusswegs in den
Haaren.
Der Streit der beiden Wick und des Hans Kuonz mit dem Müller Rudolf
Scherrer um einen Fussweg über die Wiesen der drei erstgenannten
am Rain Weieren, denen Schaden zugefüget wurde und dadurch Zanck
und widerwillen von frömden und haimischen personen erfolget, wurde
am 14. Juli 1610 mit einem Spruchbrief des Gerichtes in Weieren geschlichtet.
Leute mit Rang und Namen waren aufgeboten worden, um dem Zwist ein Ende
zu setzen. So nahmen die folgenden ehrenwerten Herren den Weg nach Weieren
unter die Füsse: Melchior Tschudi, Richter von Glarus, gleichzeitig
Hofammann von Wyl, Obmann Hans Jacob Waidmann, Lehensvogt von Wyl sowie
Hans Wick, Vogt von Zuzwil.
Nach Anhörung der beiden Parteien und intensiver Beratung wurde schliesslich das folgende Urteil gesprochen: Der Fussweg über die Wiesen wird aufgehoben und die Gemeinde Weieren angewiesen, einen andern Weg herzurichten, damit frömd und haimische dissen benamseten fussweg one cleg gan und gewandeln könnend. Die Dorfgenossen von Weieren wurden vom Gericht früntlicher Wohlmeinung angesprochen, diessere sach, ihnen ain Weg zu erzaigen, von handen ze geben und Unss den in der Gültigkeit uss ze sprechen vertruwen, damit zanckh, hader und Widerwillen erspart, gute fründt- und nachparliche Ainigkeit erhalten, widerwillen und schaden abgeschafft werde.
Beide Parteien akzeptierten den Schiedsspruch des Gerichts, nicht ohne
die Gegnerschaft während mindestens eines halben Jahres keines Blickes
zu würdi-gen und mit eisigem Schweigen zu bestrafen. Kein Gruss kam
über die Lippen, welche vorher so hatten lästern können.
Man wich sich aus, wo man nur konnte.
Im Laufe des folgenden Jahres, als im Frühling die Natur wieder aus
dem Win-terschlaf erwachte, das Grün sich die Bäume hinaufzog
und männiglich die Blütenpracht bestaunte, regte sich auch in
den Herzen der Widersacher eine kleine Blüte, die sich entfalten
wollte. Diese kleine Blüte hiess Versöhnung und drängte
vehement aus dem Dunkel ans Licht.
Hanns Wick meinte eines schönen Morgens zu seinem Namensvetter Kuonz: "Das ist ja kein Leben, wenn wir dem Müller ständig aus dem Weg gehen. Wir müssten auch mal vergessen können, was war." Der Gedanke fiel bei Kuonz auf fruchtbaren Boden, denn lange schon hatte er ähnlich sinniert, aber doch nicht den Anstoss geben wollen, um bei den anderen nicht als Weichling zu gelten.
Wenige Tage später begab sich Hanns Wick mit zehn Mass Korn zu Müller
Scherrer, um dieses mahlen zu lassen. Der Müller staunte nicht schlecht,
als er seinen Prozessgegner den Weg hochkommen sah. Gerne hätte er
diesem schon früher die Hand zur Versöhnung gereicht, denn als
Geschäftsmann im Nebenamt war er angewiesen auf Kundenaufträge.
Sein harter Schädel hatte solches aber nicht zugelassen.
Mit einem Mal wurde der sonst so selbstsichere Scherrer nervös und
verlegen, so dass er kaum ein Begrüssungswort über seine trockenen
Lippen brachte. Ein paar Augenblicke sahen sich die beiden Bösewichte
in die Augen und dann brach es aus Hanns Wick heraus: "Machen wir
doch einen Neubeginn, lassen wir das Vergangene hinter uns!" Jetzt
gab ein Wort das andere, die finsteren Mienen hellten sich auf und man
war sich bald einig, dass das Gezank ein Ende haben sollte. Hanns Wick
und Rudolf Scherrer bestimmten den 14. Juli, den Jahrestag der Gerichtsverhandlung,
als den Tag, an welchem man die Versöhnung mit einem Umtrunk besiegeln
wollte. Scherrer lud in seine Mühle ein und wünschte, dass jede
Partei ein äusseres Zeichen der Versöhnung mitbringen sollte.
Nun lebte man zu jener Zeit noch von und mit der Natur. Hans Kuonz' Frau sammelte jahrein - jahraus die feinsten Kräuter aus Wald und Feld, die einen, um den eigenen Mittagstisch zu bereichern, die anderen für jenen Tag bereit zu halten, an welchem alljährlich Schnaps gebrannt wurde. Ihr besonderer Chrüter war weit über die Grenzen Weierens hinaus bekannt und ganz sicher dazu ge-eignet, die Versöhnung damit zu begiessen.
Rudolf Scherrer seinerseits pflegte das Steckenpferd seines Vaters weiter, nämlich Kümmel zu sammeln, dieses zweijährige Doldengewächs, welches vorwiegend auf anspruchslosen, steinigen Böden wächst. Seine Frau verwendete diese länglich gekrümmten Spaltfrüchtchen mit dem eigenartigen Geschmack als Gewürz für ihre selbst gebackenen Chümmibrote. Ihr Ehemann wusste den Kümmel zu einem anregenden Chümmilikör zu verarbeiten, welcher vor allem Ver-dauungsbeschwerden lindert.
Am Versöhnungstreffen musste ja auch einiges verdaut werden, was man dann endgültig der Vergangenheit anvertrauen wollte. Also bot sich der Chümmilikör für diesen Anlass förmlich an.
Gut gelaunt und mit der Gewissheit, dass es bei diesem Zusammentreffen keine Verlierer, sondern nur Sieger geben würde, trafen sich Hanns und Joachim Wick sowie Hans Kuonz am 14. Juli 1611 bei Rudolf Scherrer in der Mühle. Weil man sich trotz beidseits guten Willens nicht einigen konnte, mit welchem der beiden aufgetischten Tropfen man beginnen sollte, waren alle mit Rudolf Scherrers Kompromissvorschlag einverstanden, als Zeichen der Versöhnung solle man doch eine kleine Menge der beiden Schnäpse miteinander vermischen.
Noch nie waren sich die vier Männer so einig gewesen wie im Augenblick der Degustation. "Aah" und "ooh" entwich es ihren Kehlen, denn was da den Weg durch den Schlund in den Magen gefunden hatte, war eine Erfindung, die nie mehr verloren gehen durfte, so köstlich mundete sie.
Es fehlte einzig noch ein treffender Name für das eben kreierte Getränk. Weder die einfallslosen "Chrüter-Chümmi" und "Chümmi-Chrüter" noch die etwas zwei-felhaften "Versöhnigsschnaps" oder "Schnapsmischig" konnten richtig befriedigen. Früher hätte jeder auf seinem Vorschlag bestanden, diesen durchboxen wollen und um nichts in der Welt nachgegeben. Nun aber suchte man gemeinsam nach der besten Lösung.
Ein Gedankenblitz führte Joachim Wick plötzlich auf den richtigen
Weg. Schon oft hatte er auf dem Sonntagsspaziergang mit seinen Buben am
Ententeich an der Binzgasse Halt gemacht und über das gute Einvernehmen
zwischen Enten und Katze gestaunt und gerätselt. "Wenn sich
nur mehr Menschen diese Tiere als Vorbild nähmen, gäbe es weniger
Streit und Zwietracht auf der Welt", hatte er einst seinen Buben
in einem pädagogischen Höhenflug mit auf den Weg gege-ben, sich
selbst aber jahrelang nicht an diesen Leitsatz gehalten.
Eigentlich passen Enten und Katze genauso wenig zusammen wie Kräuterschnaps
und Kümmellikör, und doch bildeten sie je eine Einheit, die
weit ausstrahlte. So wurde die Katze, welche sich mit den Stockenten so
gut verstand, nicht nur zum Symbol der Versöhnung unter den vier
Männern, sondern gab auch ihrem Schnaps-Likör-Gemisch seinen
Namen: Ente-Büsi.
Diese Wortschöpfung gefiel den vieren so gut, dass sie kaum mehr
zu mischen und trinken aufhören konnten.
Wie das Ende des Dreissigjährigen Krieges mit dem Westfälischen
Frieden, so wurde der Ausgang des Kleinkriegs in Weieren mit dem Ente-Büsi
besiegelt, welches vollständig aus einheimischer Produktion stammte.
Die Kunde vom süffigen Versöhnungsgetränk machte in Weieren wie ein Lauffeuer die Runde, so dass Rudolf Scherrer und Hans Kuonz im folgenden Jahr die doppelte Menge Schnaps brennen mussten, um der Nachfrage genügen zu können. Einmal mehr bewahrheitete sich, was allgemein bekannt ist: Einigkeit macht stark.
Das wundersame Getränk fand vor allem unter der männlichen Bevölkerung regen Zuspruch und gewann auch über die Gemeindegrenzen hinaus Abnehmer. Ob das Ente-Büsi von einem ausgewanderten Weierer empfohlen wurde oder ob sich eine herrenlose Flasche in der Thur bis in den Thurgau verirrt hatte, ist nicht mehr nachzuweisen. Tatsache ist jedoch, dass das Ente-Büsi Mitte des 18. Jahrhunderts im Zusammenhang mit einem Alkoholprozess auch in den dortigen Gerichtsakten auftauchte.
Stolz waren in Weieren aber nicht nur die vier Männer, welche vor Gericht ihre Lektion hatten lernen müssen, sondern das Dorf darf bis auf den heutigen Tag damit renommieren, dass das Ente-Büsi in einem weiten Umkreis des nördlichen Teils der Ostschweiz bekannt wurde und in den Wirtschaften offiziell ausgeschenkt wird.
Das wohlriechende Aroma und der feine Geschmack machen das Entebüsi bei Jung und Alt zu einem beliebten und geschätzten Trunk und nach einem währschaften Essen ist die wohltuende Wirkung als "Verteiler" allseits bekannt. Und selbstverständlich fehlt das Entebüsi kaum einmal bei einer gutgelaunten Runde zu später Stunde....
Bemerkung: WEIEREN, ein kleines Dorf in der Ostschweiz, Fraktion der Gemeinde Zuzwil im Kanton St. Gallen feierte zusammen mit dem zugehörigen Dorf Züberwangen im Jahre 2004 das 1250-Jahr-Jubiläum der Ersterwähnung der Dorfnamen in einer Urkunde. Diese Urkunde befindet sich im Stiftsarchiv des Kantons St. Gallen.
Die Geschichte wurde aufgezeichnet von
Walter Brunner und Hans Kempter nach historischen Dokumenten im Archiv der Bürgerkorporation
Weieren.
Quelle: Walter Brunner, Hans Kempter, E-Mail-Zusendung
von Hans Kempter.