Die Märchenstadt
Es war einmal eine Stadt. Wie jede Stadt hatte
sie Regel und Statut, Vorschriften und eigene Gesetze. Aber wie in keiner
Stadt hielten sich hier die Bewohner an Regel und Statut, Vorschriften
und Gesetze. Alle hatten ja mitbestimmen dürfen bei deren Entwürfe
und Beschlüssen. Die klügsten Köpfe aus ihren Reihen waren
ausgewählt worden, um den Willen der anderen auszuführen. Denn
auch hier gab es Gescheite und weniger Kluge wie überall auf Gottes
weiter Welt; aber Dumme gab es nicht, denn - wie gesagt - jeder wusste
seinen Willen erfüllt (da ja die klügsten Köpfe gewählt
worden waren). Sogar die Alten fügten sich gerne, auch Jüngeren,
die diesem Vertrauen würdig waren. Zu Zeiten hatten die Weisen ihre
Erfahrung weitergegeben und waren gerne gehört worden. Aber der Lauf
der Welt hielt nicht an und so musste Altes immer mit Neuem paaren und
so für die Bewohner den besten Weg zu ergründen. Und dieser
Rat aus Alt und Jung widmete sich aus freien Stücken den zugeteilten
Ämtern. Sie hatten sich ja nicht beworben, sondern waren wegen ihres
Könnens und Wissens von alles gewählt worden. Wirklich von alles,
denn an diesen Abstimmungen gab es keinen, der sich drücken wollte,
denn es ging ja um das Wohl aller. Dabei war die Bevölkerung so bunt
wie in jeder Stadt und die Meinungsvielfalt so reich wie überall.
Da waren einmal die Zwergen mit Frauen und Kindern. An ihren Zipfelmützen
konnte man ihre Gesinnung ablesen, welche niemand verbergen brauchte.
Es gab schwarze, rote, blaue Mützchen, auch grüne - aber die
hatten meist einen schwarzen oder roten Flecken aufgenäht, je nachdem.
Aber wenn ein Zipfelmützenträger kluge Gedanken aussprach, nickten
auch die andersfarbigen eifrig und ehrlich. Im Grunde wollten ja alle
das Gleiche: Wohl für die Stadt. Die Blauen sprachen zwar manchmal
gewichtig und ernst recht spaßig, lachten aber dann mit allen anderen
gleich herzhaft darüber. Es war ja ein lustiges Völkchen, bei
dem jeder für sich nur wollte, was es dem anderen auch zugestehen
konnte. Die Zwergenfrauen hatten sogar oft andere Mützchen auf als
ihre Männer und die Kinder trugen Buntkariert. Sogar Gelb und Weiß
war erlaubt, Braun würde jedoch niemand tragen. Dies war den Erdgnomen
vorbehalten, aber sie liefen ja barhäuptig.
Dann waren da die Elfen und Feen, nur weiblich und daher ein eigener Stand. Durch sie war das Gleichgewicht zwischen Männern und Weibern hergestellt und sie nutzten es klug und weise - wie sie eben waren. In ihrem Schutz wuchsen die Blumenkinder auf, die sich dann wandelten, zu Elfen und Feen. Diese hatten dadurch auch ihre Farben, naturgegeben und klug verteilt (Die Weißen hatten ja irgendwo immer ein schwarzes Pünktchen). Und wie beschrieben war die Nachwuchsfrage befriedigend gelöst. Mit Gut tun und Hilfe war der Tag voll ausgefüllt und dann waren die Blumenkinder in dieser Gesellschaft Familie genug. Ein Elferich hätte da wohl nur gestört. Allerdings vergaß sich so manche Fee mit einem Menschenkind - aber nur aus mildtätiger Liebe. Dann nahm sie Abschied vom Feenreich, von der Märchenstadt, zog zu ihren Prinzen und den Menschen, um ihrer Bestimmung nach leben zu können.
Auch gab es hier die Riesen mit ihren Weibern und tollpatschigen Kindern, welche dem Bild der Stadt eine eigen Note aufprägten. Ihre großen Häuser standen am Rande, wohlgeordnet und auffallend, aber sie beherbergten ja auch die Faustarbeiter und manchmal etwas träge, aber fleißig und gutmütig allemal. Auch besonderer Gemeinschaftssinn war ihnen eigen, wenn sie auch gerne aufbrausten, um sich wieder versöhnen zu können. Sie blickten stolz auf die Stadt, denn sie war zum Großteil von ihnen und den Ahnen erbaut worden. Planen war ihre Sache nicht, aber gut Gedachtes durchzuführen - das war ihr Geschäft.
Sogar Fremde waren in der Stadt, die hier neue Heimat und Hort gefunden hatten, Nornen und Waldgeister aus dem hohen Norden waren auf ihren Wanderungen angelangt und brachten ihre Erfahrungen aus uralten Zeiten für das Gemeindewohl mit. Ein Wassermann mit seinen Nixen hatte wegen verseuchter Heimatgewässer um Asyl gebeten und es gerne im nahen Fluss erhalten. Feen und Geister des Orients flohen vor den Kriegen in ihren Ländern und baten um Zuflucht, bis das unverträgliche Gespenst des Hasses weitergezogen wäre. Gerne wurden sie in den Häusern der Bewohner aufgenommen; viele hatten dieses Schicksal selbst erfahren. Giganten aus dem alten Griechenland hatten im nahen Berg Höhlen bezogen, nahe bei den Riesenvettern; ihre Welt war zerstört und ihr Sinn genommen worden. So fanden die Zyklonen samt Familien wieder Tätigkeiten und Recht.
Die Stadt ist sinnvoll erbaut und gegliedert. Verwaltungsgebäude und Arbeitsstätten bilden ihren Kern. Sie sind durch breite Straßen getrennt und an deren Rainen mit Blumen und Bäumen reich gepflanzt. Ein breiter Ring trennt sie von den weitläufigen Wohngegenden; durch Wiesen und Auen, über sprudelnde Bäche nehmen alle ihren täglichen Weg, atmen den Duft von tausenden Blumen, streicheln das zutrauliche Getier und hören den Sang der Vögel aus Sträuchern und uralten Bäumen. Im Westen dehnen sich die kleinen Häuser der Zwerge in weitläufigen Gärten. Zwischen den Zaunlatten stehen Gräser, die Mütter pflanzen ihr Obst und Gemüse, Kräuter und Beeren. Aus den kleinen Kaminen steigt ständiger Rauch von duftenden Hölzern, vom Feuer für Tränke und Sud. Hinter den Häusern auf saftigen Wiesen tollen die Kinder oder hören auf hölzernen Bänken die Lehren der Alten. Jede Familie hat ein gleiches Stück Land, ein gemeinsamer großer Anger lädt an Festtagen zu Spiel und Tanz. Dann fiedeln und trompeten die Zwerge, die Mütter tratschen über Kochen und Backen und die Jüngsten schauen mit großen Augen auf das bunte Treiben. Dann kommen sie auch aus den anderen Stadtteilen, ergötzen sich an dem putzigen Gehabe ihrer Mitbewohner. Die Feen mischen sich unter die Zwergenmütter, Elfen tanzen zur Musik und die Blumenkinder tollen mit den kleinsten Zwerglein. Manchmal verdunkelt sich die Sonne, wenn die Riesen zu Besuch kommen und von ihren versuchten Tanzschritten zittert die Erde.
Sie wohnen da im Norden, jenseits des Flusses, nahe den Abhängen der Berge, in die ihre Verwandten aus dem alten Hellas ihre Höhlen geschlagen haben. Dort ragen die Riesenbauten in den Himmel geschmückt mit grobschlächtigen Türmen und Säulen. Sie säumen halbkreisförmig den großen Platz, auf dem sonst die Versammlungen aller Bewohner abgehalten werden. Auch ist hier der Markt mit seinen vielfältigen Angeboten für und von jedem und Allen. Hier wird getauscht und gefeilscht, verhandelt und gefeiert. Die Riesen rollen dann die Fässer mit ihrem eigenartigen Bier heran, von den Zwergen kommen die klaren Schnäpse und süßen Tränke, Feen bringen Met aus Honig und Wein von aller Geister Länder. Dann binden die Riesen Schnüre aus Hanf um die Flaschen, um sie beim Trinken nicht zu verschlucken. Der Hollerschnaps und Blumenlikör bringt so manche Fee ins Torkeln und freche Blumenkinder, die an den Gläsern heimlich nippten, schlafen ihren Schwips unter Rosen und Nelken aus. Da laufen so manche Zwergenkinder durch die Gassen des Riesenviertels, staunend und kichernd, verirren sich nur allzu oft und werden dann - in den Schürzen der Weiber hoch über dem Boden schwebend - verängstigt und heil wieder zurückgebracht.
Die Feen bewohnen mit den Elfen im Süden ihre Paläste in den zaubrisch duftenden Gärten. Dort gedeihen alle Blüten dieser Welt, gepflegt und gehegt von den nimmermüden Elfen, die in kleinen Villen zwischen Oleander und Orchideen ihre Heimstatt haben.
Die Paläste schicken Türmchen in den immerblauen Himmel, fein aus Alabaster gedrechselt und mit zarter Mustern in Gold verziert. Marmor trägt sie, in den verschiedenen Farben von Weiß bis Rot fügt er sich zu Mauern, Böden und Simsen. Aus Opalen und Granaten sind kunstvolle Bilder eingelegt, Mosaike mit tausenden Edelsteinen schmücken die Decken. Duftende Rosen aller Farben blühen in den Sälen zwischen Säulchen und durch silberne Gitter, Gladiolen schimmern in Vasen aus Bergkristall. Magische Lichter erhellen die Räume, seidene Kissen und damastene Sofas laden zur Ruhe. Zarte Musik aus allen Sphären betören das Ohr und lebende Bilder nehmen das Auge gefangen. Weit in die Märchenebene strecken sich die Parks mit ihren kunstvollen Hecken und Irrwegen, Blumen zeigen auf den Wiesen endlose Ornamente und die Kronen der Bäume formen sich zu traumhaften Figuren. Außer den Riesen schlendern hier alle am Abend zu den Klängen Jubilierender Vögel und sprudelnder Springbrunnen, um den Zauber der Welt zu genießen.
Auf den Hügeln im Westen Tummeln sich in den weitgestreckten Wäldern Schrate und Gnome. In versteckten Holzhütten führen sie ihr Dasein, unstet und oft unterwegs, Hüter der Bäume und Farne, auch das scheuen Waldgetiers. Voll übermut sind sie und treiben so manchen Schabernack. Als die Riesen einst ihre Versammlung hatten, trieben sie alle Hasen und Rehe auf den Versammlungsplatz und die ungeschlachten Kerle mussten stundenlang stehen, um nichts zu zertreten. Erst als sie die Kobolde in ihre Bierkeller ließen, wurden sie von dem Kleinzeug um ihre Zehen befreit.
Die Höhen der Hügel zieren die Burgen der Winde und Stürme, dort hausen die Herren von Regen und Schnee, die Schemen der Nebel sowie alle Wolkenfrauen.
Bei Sonnenlicht funkelt und gleißt es im Strom, über die Hügel im Westen von den Bergen im Norden trennt und majestätisch die Stadt durchfließt. Dann sieht man die Umrisse des Schlosses, in dem der Wassermann mit seinen Nixen haust. Von Korallen der Meere, Kristallen aus den Tiefen der Erde wohl erbaut, mit Perlen und Muscheln geschmückt. So tröstete sein Anblick auch die Seelen der Menschen, die in den Wassern ertrunken sind und hier auf Erlösung hoffen.
So gleiten die Tage dahin, fließend im Gleichklang der Zeiten. Im Frühling schüttelt der Winter den Schnee von den Schuhen, nur die Gärten der Feen hat es verschont. Dann schlürft die Erde die willkommene Labe und ist dann bereit, den Lauf der Natur zu erneuern. Jetzt erwachen die Gärten der Zwerge zum Leben, Pflanzen und Samen werden geborgen in die furchtbare Erde. Die Riesen ackern mit klobigen Fingern ihre Felder, die Feen streuen das gehortete Saatgut sorgsam aus. Warme Frühlingsregen und die strahlende Sonne begünstigen das Keimen. Jetzt steigen die Vögel hoch empor und vergnügen die Herzen und Geister mit ihren Liedern. Jetzt keimen die Sträucher und Bäume, schmücken sich mit frischem Grün. Frühlingsblumen laden zum Wandern ein und die Zwergenkinder schaufeln mit ihren Holzpantoffeln die feuchte Erde in die guten Stuben. Die Mütter müssen zwar schimpfen, aber sie tun es mit halbem Herzen und lachenden Augen. Die Kleinen merken und wissen es, locken daher Eichkätzchen und Häschen in die Häuser, spielen und lernen dadurch, vergessen das heitere Gezeter. Erst wenn die Väter kommen, verscheuchen sie die Spielkameraden. Manch Eichkätzchen verstecken sie im warmen Federbett, um mit dem weichen Fellchen besser einschlafen zu können. Die Väter kommen von den Stollen, die sie in die Hügel getrieben haben. Edelsteine und Gold bergen sie aus dem Bauch dieser Berge, Erze brechen sie aus dem harten Gestein. Die Schmiede übernehmen das Metall, bringen dieses in die nötige Form. So klopft und hämmert es den sonnigen Tag, rußige und erdige Gesellen kommen des Abends müde nach Hause.
Die Jüngsten auf den Knien schlürfen sie durstig das Bier der Riesen, dazu oft ein Gläschen des belebenden Schnapses aus den Früchten des Gärtchens. Aus diesem stammen auch die frühen Kartoffel und die Hirse für den Brei, das Leibgericht aller fleißigen Zwerge. Das Brot kommt von dem Roggen der Riesenfelder, auch Gersten und Mais haben die Freunde im Norden gepflanzt. Karotten und Tomaten für die Jüngsten ziehen die Mütter, auch Erbsen und Bohnen an ihren Ranken. Das Mus aus Äpfeln und Birnen ist ganz nach geheimen Rezepten gekocht und daher in jedem Häuschen anders bereitet. Kohl und Kraut tauschen gerne die Riesen ein und essen die Köpfe wie unsereiner die Äpfel. Blumenkinder melken die Blüten für Met und Säfte, kommen dabei so mancher Zwergenfrau ins Gehege, die für Salben und Heiltränke sammeln wollen. Dann gibt es ein lustiges Gezeter, weil die Kleinen immer um eine Nasenlänge voraus sind.
Jetzt ist auch die Zeit gekommen, in der die großen politischen Umwälzungen getätigt werden. Ein Versammlung jagt die nächste. Da sitzen sie beisammen und reden sich die Köpfe heiß oder die Lippen wund. Die Rot-Mützen und -hosen protestieren zuerst, um gleich wieder zuzustimmen, wenn die Blauen auch dagegen sind. Die Schwarzen reden und reden, um am Schluss nicht mehr zu wissen, was sie zu Beginn gesagt haben. Die Grünen schütteln automatisch die Köpfe im Takt so wie sie in dem Durcheinander nichts verstanden haben. Am Ende sagen alle gewichtig Nein!, obwohl niemand ein Ja gefordert hat. Sie unterhalten sich prächtig dabei und benötigen deshalb kein Theater, obwohl die Schwarzen eines bauen wollen. Wofür - das wissen sie zwar nicht, aber da die Roten ein Rathaus wollen, welches ebenfalls keiner benötigt, so wollen die Schwarzen eben ein Theater. Die Blauen bestehen auf einer Brücke für die Riesen, damit diese nicht immer durch den Fluss warten brauchen. Da die Riesen aber gerne waten, müsse man Waten verbieten und die Riesen auf die Brücke zwingen. Wer die Riesen zwingen könnte, das weiß wieder keiner und jetzt sind die blauen Riesen böse auf die blauen Zwerge, gründen eine halbblaue Antibrücken-Partei. Jetzt beenden die Grünen ihr Kopfschütteln und fordern eine zusätzliche Wiese, unten im Süden. Dafür müsste man zwar eine Au roden, aber diese könnte man noch weiter unten wieder anpflanzen! Ja, und alle Schornsteine sollten eine Handbreit niedrig werden, um den Tauben bessere Möglichkeiten für den Anflug zu schaffen! Und so geht es dahin, so manchen Abend. Politik ist den Abendstunden vorbehalten. Dies ist die Zeit der Erholung und des Vergnügens, der Tag gehört der Arbeit! Auch die gewählten Vertreter schaffen des Abends, denn niemand würde sonst ihre Tätigkeiten erledigen. Gewählt zu werden - das ist eine Ehre und daher mit zusätzlichen Zeitaufwand verbunden. Deshalb wird alles auch schnell erledigt, denn wer wartet schon gerne? Nur das freiwillige Reden und lustige Streiten - das ist Vergnügen und Spaß, Gehirnübung und Kontaktpflege. Alles ist schnell vergessen und bleibt daher auch beim Alten. Und wenn jemand wirklich etwas benötigt, so wirkt das Wörtchen Bitte wahre Wunder! Alle helfen dann eifrig zusammen und wissen, dass ihnen auch die anderen gerne helfen würden.
Und diesen Zustand nennen sie im Märchen Demokratie. Der Sommer mit seiner Hitze bringt Ruhe in die Stadt. Feen und Elfen begeben sich auf Reisen, hinaus in die Welt. Sie mengen sich gerne unter die Menschen - und manche kehrt nie mehr zurück. Die Riesen gehen nun barfuss und in ihren Riesenpantinen aus Holz baden die Zwergenkinder. Jetzt passen die Waldschrate und Gnome besonders auf, damit kein Brand ihr Revier zerstöre. Zwerge und ihre Freunde wandern durch den Wald, genießen seine Kühle und spielen mit den Tieren.
In den Gärten leuchten auf hohen Stängeln die Sonnenblumen und die Zwergenfrauen eilen umher, sammeln Kräuter für Salben und Tränke. Frühmorgens pflücken sie die taufrischen Pflanzen, putzen und ordnen sie, um tagsüber zu kochen und zu sieden. Die Blüten der Scharfgarbe gegen Entzündungen, Sprosse des Frauenmantels für die Verdauung und Geschwüre. Knoblauchtinkturen brauen sie, regulieren damit Blutdruck und Magenbeschwerden, mit den Zehen behandeln sie Warzen und Hühneraugen, Eibisch für Husten und Katarrh, Sellerie bei schmerzenden Gelenken. Mit den Kletten spielen die Kinder, die Wurzel verkochen die Weisen zu Absud für Hautleiden. Wermut und Beifuss gegen Gelbsucht und Würmer, die Salbe der Ringelblumenblüten verleiht auch den Feen noch zartere Haut. Oft verletzen sich die Kleinen und dann legt die wissende Mutter frisches Hirtentäschel auf blutende Schrammen. Die Kamille ist vielseitig verwendbar und hilft besonders, wenn sich ein Freund an dem Überangebot an Beeren, Obst und Wurzeln den Magen verdorben hat. Nach einem Abend mit zuviel Riesenbier und Zwergenschnaps wirkt der Tee dann wahre Wunder. Schachtelhalm und Fenchel gegen Magenschmerzen hilft ebenfalls nach kleinen Feiern. Lavendel und Wacholder, Geißblatt und Basilikum, die Pfingstrose und Salbei - fast jede Pflanze hat ihre Wirksamkeit. Bei Fieber hilft der Schwarze Holunder, Löwenzahn bei Gicht. Gottes Wiese ist eine einzige Apotheke und die Zwerge wissen, war wir Menschen längst vergessen haben oder gar nicht lernen wollen. So beschenkt auch der Sommer überreichlich und ist ein treuer Verbote des Herbstes. Jetzt kennt der Reichtum der Natur keine Grenzen und beschert alle Wunder dieser Welt.
Die Weißmützen wollten einen Gedanken vortragen, der Uraltzwerg hatte die Idee - und alle stimmten begeistert zu. Das große Fest nach dem goldenen Sommer sollte die Märchenwelt vereinen. Mit den Figuren und Gestalten aus Erzählungen aller Zeiten und Länder wollte man feiern, singen, lachen, tanzen und plaudern. Ein Fest würde es werden, an das man noch lange zurückdenken könnte! Und so würde es auch. Noch lange Zeit später erkannte man die Spuren dieses märchenhaften Ereignisses!
Als erste flogen die Hexen an, wuschen ihre Besen im Fluss und legten diese am Ufer fein säuberlich zum Trocknen in die Sonne. Dann zogen sie sich zurück, in einer Ecke des Festplatzes begann eine Gehexe, Rezeptaustausch und Bosheitengetratsche. Befreit von Zwang ihrer Märchen konnten sie endlich ihre wahren Gesichter zeigen: Blitzgescheite, erfahrene ältere Damen, in allen Künsten wohlbewandert, zwar etwas verunstaltet durch Buckel, Warzen und Triefnasen, im Grund aber gelehrter als alle Doktoren zusammen. Wegen ihrer Hässlichkeit ausgestoßen von der Gesellschaft, dadurch geheimnisvoll und bösartig gezeichnet. Aber wer hat es je so weit gebracht in der Rabendressur? Düsenflugzeuge braucht der Mensch - ihnen genügt ein Besen und noch nie ist einer abgestürzt. Welcher Babysitter hätte nicht schon gerne einmal seine Schutzbefohlenen in Lebkuchen verwandelt, welcher Lehrer nicht gerne seine Rasselbande in Tiefschlaf versetzt? Nur die können das nicht! Auch Eltern sperren ihre Kinder ein - bei Hexen ist das ein Verbrechen! Noch nie hat eine Hexe Kinder geschlagen, sie hält diese höchstens zur Arbeit an oder füttert sie fett; aber Eltern tun das ja auch!
Da sind die Stiefmütter schon viel gefährlicher. Sie halten hier ihre Jahreskonferenz ab und kaufen alle Äpfel auf, die sie erhalten. Mit goldenen Kutschen kommen sie angefahren, giftige Blitze aus den Augen strahlend, gekleidet nach den jeweiligen Moden ihres angeheirateten Reiches. Schön und kalt - Filmproduzenten würden sich die Hände reiben! Und so saßen sie beisammen, tauschten Gift, probierten es an den Äpfeln und ließen diese achtlos herumliegen. Blumenkinder fanden sie und bissen hinein. Bewusstlos fielen sie um, Hexen wurden geholt, welche die Armen in Krähen verwandelten - denen schadet kein Gift. Eifersüchtige Raben stießen von den Schultern auf die Neulinge hinunter und das schönste Vogelgezänke war los. Endlich schwebte gelassenen Flügelschlages die gute Fee heran und gab allen ihre ursprüngliche Gestalt zurück. Die Raben waren jetzt zwar auch wieder böswillige Knaben in Lederhosen, im Umweg über Tannenzapfen zwangen sie wie gewöhnt mit langem Schnabel nach Getierchen in den strähnigen Haaren ihrer Besitzer suchten. Von den Blumenkindern hat übrigens keines mehr jemals einen Apfel angerührt.
Hans - der berühmte Müllerbursche - zog wandernd heran, bereit zum Tanz mit den Elfen. Seinen noch berühmteren Esel stellte er bei den Zwergesgärten ab, gleich neben der nimmersatten geschorenen Geiß. Jetzt machten sie sich gemeinsam über Kräutelein und Kohlköpfchen her, zerwühlten die sorgsam gehüteten Beete aufs Beste bei der Suche nach dem Besten. Einige Zwergenfrauen lieferten ihnen nun ein heißes Gefecht mit Kochlöffel und Besen, um ihr Werk zu schützen. Viele waren es nicht, da sich der ältere Teil versteckt hatte - und der hungrige Wolf war ja geifernd und gierig auf der Suche nach Großmutter unterwegs. Endlich griffen die Zwergenkinder ein, packten den Esel an der Hanfschnur und zerrten ihn aus dem Garten, in dem die Rüben so appetitlich lockten. Über die Hauptstraße führte ihr Weg und so manches Bengelchen konnte es nicht lassen. Am Schwanz packten sie das Grautier und riefen: Bricklebritt! . . . und schon waren sie in einem Haufen Goldmünzen verschwunden, Überall lagen diese blitzenden Häuflein, aus denen es kläglich wimmerte. Keuchend hasteten die 7 Zwerge heran. Sträflich hatten sie sich in den Bergwerken der Stadt ihrer verbotenen Arbeit hingelegt, aber jetzt ging es richtig los. Nach allen Seiten flogen die Taler und der geizige Bauer prüfte mit seinen Zahnstummeln, bevor er so manchen einsteckte.
Da lagen schon schweratmend und bewusstlos Elfen an den Straßenrändern. Sie waren nun gekommen! Sie, auf die sich alle freuten und deren Anblick und Ausstrahlung nicht mehr tragbar war! Sie ritten nun ein auf ihren Zauberpferden! Sie - die Prinzen von Dornröschen, Rapunzel, Schneewittchen, Schneeweißchen, und wie sie alle heißen! Zuviel für ein Mädchenherz, wenn es auch in einer Fee, einer Elfe schlug.
Da ging ein Aufschrei durch die Menge. Entsetzen und Schrecken lähmte die Bewohner der Stadt! --- Schnee - ja, Schnee - aber auf die Orchideengärten in den Parks der Feen fielen die Flocken, bedeckten die Rosenbüsche und fächelnden Palmen. Seit Märchengedenken hatte es nicht geschneit! Und nun hatte Frau Holle den Seiden und Brokaten von Feenbettwäsche nicht widerstehen können. Auch seit Märchengedenken waren sie nicht geschüttelt worden, also höchste Zeit! Und so schneite es, wie es zur Weihnachtszeit schneien sollte. Aber am Ende des Sommers bei strahlender Sonne und leicht bekleideten Elfen auf alle Gewächse des ewigen Frühlings! Der Südwind versuchte der Kissenbeutlerin Herr zu werden - aber wer kann einer eingefleischten Hausfrau bei ihrer Lieblingsarbeit schon Herr werden? So konnten die Zwerge gleich weiterschaufeln und der Weihnachtsmann fuhr mit seinem Renntierschlittengespann - fröhlich mit der Peitsche knallend und glöckchenklingend - guten Mutes durch die orientalische, blühende Winterlandschaft. Rübezahl fühlte sich hier ausgesprochen wohl und versuchte, mit seinen Riesenschneebällen durch die kristallenen Fensterchen der Feenpaläste zu werfen. Die Riesen aus der Nordstadt wollten ihn daran hindern und auf den Blumenwiesen entbrannte die lustige Schlacht der Gemeindegeschichte. Die größte Sensation war ein schreiender Schneeball - irrtümlich war der kleine Däumling in die Kugel geraten. Und wie schon in unseren alten Büchern - auch hier passte alles zusammen, alle vertrugen sich, trotz der Verschiedenheiten herrschten Verstehen und Gemeinsamkeit. Die Phantasien der weiten Welt hatte sich hier getroffen und bildeten eine Einheit in ihrem Sinn. Der böse Wolf leckte ohne Gier das sanfte Lämmlein und die hinterlistige Hexe unterhielt sich mit dem einfältigen Hänsel. Im Märchen würden sie wieder böse und gut sein, aber jetzt waren sie Figuren zum eigenen Vergnügen. Natürlich ließ sich keiner das Fußballspiel Märchen Grimm gegen Hauffs Märchen entgehen. Schiedsrichter war Aladin samt Wunderlampe, der das Spielfeld von seinem fliegenden Teppich aus bestens übersehen konnte. Die schlauen Schweinchen als Balljungen hatten kaum zu arbeiten, denn die weisen Frauen griffen höchst unerlaubt in das Spiel ein und ließen den Ball nicht aus dem Spielfeld kollern. Inzwischen standen die Riesen beisammen und übten sich im Ausreißen von Bäumen und Felsenwerfen. Elfen spielten mit Margariten Federball und Sindbad plätscherte vergnügt im Fluss.
Doch dann schlug die Turmuhr Mitternacht und mit einem Schlag war der Spuck vorbei. Die Zwergenkinder und Elfen lagen in ihren Bettchen und träumten wundersame Geschichten. Der Westwind blies den Unrat auf große Haufen und der Südwind trocknete die Straßen der Stadt. Bald strahlte die Herbstsonne auf ein ganz normales Märchenleben - und wenn alles nicht hier aufgeschrieben wäre, würde es keiner wissen.
Quelle: E-Mail-Zusendung von Heinz Benzenstadler, 15. August 2005