Der Fichtelberger in Venedig.
Es gab einmal eine Zeit, wo in allen Gebirgsgegenden Deutschlands Venetianer,
überhaupt Italiener, herumzogen, um, wie es hieß, Goldsand
aufzusuchen. Sie handelten zum Schein mit Hecheln oder Mäusefallen,
und kehrten, wenn sie ihre Säckel mit dem sogenannten Goldsande gefüllt
hatten, wieder heim. Daß sie an gewisse Orte immer wieder hinkamen,
einen feinen Sand aufsuchten und mit sich nahmen, ist gewiß, aber
an seiner Goldhaltigkeit möchte wohl mit Recht gezweifelt werden.
Wozu sie aber den mitgenommenen Sand nutzten, weiß man nicht.
Solche Venetianer, wie sie gewöhnlich genannt wurden, kamen auch
auf das Fichtelgebirge, und manche denkwürdige Geschichte trug sich
zwischen ihnen und den Gebirgsbewohnern zu, wovon man noch die Personen
zu nennen weiß.
Unter andern hielt sich einmal einer, Namens Gabriel, lange Zeit in dem
Dorfe Wülfersreuth, an der alten Eger'schen Landstraße, bei
einem Bauer auf. Er war da wie zu Haus, und wurde wie ein Mitglied der
Familie behandelt. Am Tage wanderte er im Gebirge herum, und Abends, wenn
er heim kam, schlief er hinterm Ofen, und lag auf Thierfellen von wilden
Schweinen, Bären und Wölfen; denn solche Bestien gab es damals
häufig noch im Fichtelgebirge.
So lebte Gabriel zehn Jahre lang in steter Einigkeit und Freundschaft
bei dem Bauer. Keiner störte den andern in seinen Geschäften.
Der Bauer fragte nicht, wo der Fremdling am Tage herumgehe, was er suche,
ob er denn gar nicht wieder heimkehren wolle, und dieser bezahlte wöchentlich
seine Zeche, ohne zu äußern, daß er bald, daß er
überhaupt einmal wieder fortgehen werde. Beide waren an einander
gewöhnt, und lebten gern beisammen.
Da es dem Bauer, nach einer so langen Reihe von Jahren gar nicht einfiel,
daß sein Freund ihn je wieder verlassen könne, so kam es ihm
um so unerwarteter, als Gabriel ihm einst ganz schlank sagte: er werde
des andern Tags aufbrechen, nach Venedig zurückgehen, und nie wieder
in diese Gegend kommen.
Alles im Hause ward betrübt über diese Nachricht, und Weib und
Kind weinten, als gehe ihr Vater weg. Aber Gabriel ging doch. Beim Abschiede
drückte er seinem biedern Hauswirthe recht herzlich die Hand, und
sprach:
»Leb wohl, Hans, und laß dir zum Abschiede noch sagen: Es
steht dir ein trauriges Geschick bevor. Du wirst einst in große
Noth gerathen, wo du Geld und Freunde nöthig hast, wenn du gerettet
werden sollst. Denke dann an mich, deinen Freund Gabriel, und komm nach
Venedig. Lebe wohl!«
Und dort ging Gabriel hin. Der Bauer sah ihm stumm nach, so lange er konnte.
Dann kehrte er still in sein Haus zurück, und dachte dem dunkeln
Worte nach.
»Ein feiner Abschiedsgruß,« sprach er. »Zehn Jahre
lang habe ich ihn gehegt und gepflegt, und zur Dankbarkeit hinterläßt
er mir die Nachricht, daß ich in große Noth kommen werde!
Nimmt mir diese Prophezeihung nicht all' meine Ruhe weg! Konnte er nicht
lieber sagen: wenn du einmal in Noth kommst, so suche bei mir Schutz;
mußte er so bestimmt sagen: du wirst in Noth kommen!«
Aber sein Weib, eine kluge Frau, redete ihm zu, sich der Worte zu entschlagen,
und nicht weiter daran zu denken. Doch schwer wurde das dem guten Hans,
und nur die Zeit konnte das Andenken daran etwas schwächen. Es verging
ein Jahr, es verging noch eins, und da noch immer keine Noth eingetreten
war, so ließ der Glaube an die Prophezeihung nach, und kein Mensch
im Hause dachte weiter daran.
Nach vier Jahren war Hans an einem Sonntage, wie gewöhnlich, in der
Schenke. Er hatte sich's wohl schmecken lassen, und war etwas mehr, als
lustig. Da erhob sich vor der Thür des Hauses ein Gezänk zwischen
jungen Burschen. Erst war's ein heftiger Wortwechsel, dann raufte man
sich bei den Haaren, und endlich schlug man sich. Hans kam gleich andern
heraus, Frieden zu stiften, und bediente sich dazu eines ausgerissenen
Stuhlbeins. Er schlug derb drein, der Weingeist ließ ihn nicht sehen,
wo er hinschlug, und, ach! da schlug er einen jungen Bauer mausetodt.
Plötzlich wurde der arme Hans nüchtern, und fort sprang er,
der gerechten Strafe zu entgehen. Zwar verfolgten ihn die Verwandten des
Erschlagenen, aber die Dunkelheit der Nacht und der dicke Wald bargen
ihn.
Sechs Stunden lang war er in eins fort gelaufen, da ward er matt, und
mußte sich setzen, und schlief ein. Spät am andern Morgen erwachte
er, und nun erst fühlte er ganz das Traurige seiner Lage.
»Was thu' ich, wohin wende ich mich!« rief er weinend aus.
Da fielen ihm plötzlich Gabriels Worte ein.
»Ja, Gabriel, ich komme zu dir!« Sprach's, sprang auf, und
schritt wie neu gestärkt vorwärts.
»Aber, wo liegt denn Venedig? rechts, links, vorwärts, oder
rückwärts?«
Wer konnte ihm die Frage beantworten! Er ging daher auf gut Glück
immer vorwärts. Mancher lachte ihn aus, den er nach dem nächsten
Wege nach Venedig fragte, mancher wies ihn zurecht. So kam er denn endlich
nach zehn vollen Wochen vor der schönen Stadt an.
Kaum war er aus dem Fahrzeuge gestiegen, und hatte ein paar Schritte auf
der Straße gethan, so fragte er den Ersten, der ihm begegnete: wo
Gabriel wohne? Aber der ließ ihn stehen, und gab ihm keine Antwort.
Er ging weiter, sah sich überall nach Gabriel um, aber Gabriel war
nicht zu finden. Er fragte wohl noch zehn Mal nach Gabriels Wohnung, aber
man lachte ihn aus, oder antwortete höchstens durch Kopfschütteln.
So verging der erste, so der zweite und auch der dritte Tag. Hans lief
sich matt und müde durch alle Straßen, fragte und fragte, aber
Gabriel war nicht zu finden.
»Ach, ich unglücklicher Mann!« rief er aus, »da
bin ich nun in Gabriels, meines alten Freundes, Stadt, und kann ihn nicht
finden. Nach Haus darf ich nicht kommen, Geld habe ich auch nicht mehr,
was soll aus mir werden!«
Voll Kummer setzte er sich auf die Mauer an einem Kanal, und die hellen
Thränen liefen ihm über die Backen.
»Finde ich ihn heute nicht,« sagte er, »so stürze
ich mich ins Meer.«
Da war's ihm, als höre er seinen Namen rufen. Er schaute umher, horchend,
ob er sich auch nicht irre. Da rief eine Stimme noch lauter:
»Hans! Hans vom Fichtelgebirge!«
Hans sprang auf, schaute umher, sah aber keinen, der ihn gerufen hätte.
Unwillkürlich ging er einige Schritte vorwärts, wußte
nicht, wohin er sich wenden sollte, da rief die Stimme nochmals:
»Hans von Wülfersreuth, suchst du deinen Freund Gabriel? Hier,
hier oben bin ich ja!«
Hans schaute in die Höhe, und siehe, da winkte ihm Gabriel aus dem
Fenster eines schönen großen Pallastes. Er traute seinen Augen
nicht. Es war zwar Gabriels Stimme, Gabriels Gesicht, aber wie geputzt,
wie stattlich gekleidet, und welcher prächtige Pallast war das! Unentschlossen,
was er thun sollte, blieb er betroffen und verwirrt stehen.
Da that sich die Thür des Pallastes auf, und Gabriel, der Herr davon,
trat, köstlich angethan, heraus.
»Je Hans, kennst du denn deinen alten Hausfreund Gabriel nicht mehr?«
Hans maß ihn von Kopf bis zum Fuß, und blieb versteinert stehen.
Gabriel faßte ihn bei Hand, zog ihn in das Haus, und führte
ihn in ein prachtvolles Zimmer.
»Erkennst du mich denn immer noch nicht, Hans!« sprach Gabriel,
»ich bin ja Gabriel, der zehn Jahre lang bei dir im Wülfersreuth
wohnte?«
Hans schüttelte den Kopf, und sprach kein Wort. Da verließ
Gabriel das Zimmer, und ließ den wie betäubt da stehenden Bauer
allein.
»Was soll daraus werden!« dachte Hans, und sah sich im Zimmer
verwundernd um, ohne von der Stelle zu weichen. Da that sich die Thür
nach einer kleine Weile wieder auf, und Gabriel trat, bekleidet mit demselben
schmutzigen Anzuge, den er in Wülfersreuth damals getragen hatte,
herein.
»Ach! Gabriel, du bist's!« schrie Hans, und die Freunde lagen
sich in den Armen.
Nun war Hans wieder wie sonst gegen Gabriel. Er duzte ihn wie vorhin,
er erzählte ihm seine Schicksale, sein gehabtes Unglück, seine
Wanderungen nach Venedig, alles auf's umständlichste. So verging
der Tag unter traulichen Gesprächen, bis es Schlafenszeit war. Da
sagte der reiche Gabriel:
»Nun, alter Hans, bei wem willst du diese Nacht schlafen? Du hast
die Wahl, bei einem Bären, bei einem Wolfe oder bei einem wilden
Schweine?«
Der Fichtelberger wußte nicht, was die Fragen bedeuten sollten.
Er ahndete nichts Geringeres, als die Bestrafung seiner Freiheiten in
diesem kostbaren Herrenhause. Da er immer schwieg, so nahm ihn Gabriel
lächelnd bei der Hand, und führte ihn durch eine Menge Gemächer,
wovon eins immer köstlicher geschmückt war, als das andere.
Dann ging's eine lange Gallerie hin in den abgelegensten Theil des Hauses,
wo sie endlich in ein Schlafgemach traten. Hans war gefolgt, aber immer
voller Furcht. Was erblickte er aber hier!
Drei goldne Betten standen da, wovon das eine wie ein Bär, das andere
wie ein Wolf, und das dritte wie ein wildes Schwein künstlich gearbeitet
waren.
»Sieh, Hans!« sprach Gabriel, »diese Betten, und alle
Kostbarkeiten, die du in meinem großen Pallaste findest, sind die
Früchte meines Aufenthalts bei dir auf dem Fichtelgebirge. Dorther
holte ich Goldsand, den ihr nicht kennt und daher nicht achtet, und machte
mich damit zum reichen Manne. Dort schlief ich in deinem Hause auf Bären-,
Wolfs- und wilden Schweinsfellen, jetzt wähle du, in welchem Bette
du schlafen willst. Gute Nacht!«
Gabriel verließ den erstaunten Hans, wählte das Bärenbette,
und schlief köstlich bis an andern Morgen.
* * *
Aus einer Gegend am Fichtelgebirge mitgetheilt
erhalten.
Quelle: Friedrich Gottschalck, Die Sagen und Volksmährchen der Deutschen, Halle 1814