Die drei Schwäne.
Bei Wimpfen am Neckar giebt es einen kleinen See auf einem Berge, wovon
folgende Sage erzählt wird.
Ein Knabe saß einmal am Ufer dieses See's und spielte mit Blumen.
Er war ganz allein. Oft hatte er schon auf das Wasser hingeschaut und
sich einen Kahn gewünscht, mit dem er sich auf der glatten Oberfläche
herumfahren könne, aber nur ein Bret lag neben ihm, was er allenfalls
zum Schwimmen gebrauchen konnte, sonst nichts.
Jetzt blickte er wieder hin, und siehe, da waren mit einem Male drei schneeweiße
Schwäne auf dem See. Mit stolzer Miene segelten sie hin und her,
und endlich auf den Knaben zu. Der Knabe war ganz entzückt über
ihren Anblick. Er suchte alle Brotkrumen aus den Taschen hervor, und fütterte
sie. Sie schienen ihm so zahm, sie sahen ihn so freundlich an, und kamen
so dicht an's Ufer, daß er sie haschen zu können meinte. Aber
immer wichen sie aus, wenn er sich auch noch so tief zu ihnen hin beugte,
und die junge Pappel, die er umfaßte, noch so tief hinabzog, um
recht weit zu reichen.
Je zahmer sie ihm schienen und je weniger er ihrer habhaft werden konnte,
desto höher stieg sein Wunsch, einen wenigstens zu besitzen. Er ergriff
daher das Bret neben sich, ließ es vom Ufer hinab, wagte sich darauf,
und es trug ihn. Mit einem: Juchhei! stieß er vom Ufer, gebrauchte
die Hände als Ruder, und trieb sich so vorwärts. Die Schwäne
waren immer vor ihm, aber er erreichte sie nimmer. Jetzt war er mitten
im See. Da überfiel ihn eine Angst und eine Mattigkeit. Er mußte
die Arme sinken lassen und ruhen. Wo er hinsah, war eine große Wasserfläche
um ihn her, und er zitterte vor Furcht, wie er wieder an das Ufer kommen
solle. Indem hatten sich die drei Schwäne um ihn versammelt, als
wollten sie ihn beruhigen. Da vergaß der Knabe die Gefahr, fuhr
hastig mit der Hand nach dem schönsten, aber ach! - das unsichere
Fahrzeug schlug um, und er sank hinab in die blaue Fluth.
Als er aus der ersten Betäubung erwachte, sah er sich auf einem Ruhebette
in einem prächtigen Schlosse, und vor ihm standen drei wunderschöne
Jungfrauen.
»Wie kamst du hierher?« fragte die eine mit holder Miene,
und ergriff seine Hand.
»Ich weiß es selbst nicht,« sprach er, »wie mir
geschehen ist, aber ich wollte drei weiße Schwäne auf einem
Teiche haschen, und fiel dabei ins Wasser.«
»Willst du bei uns bleiben?« sprach eine der Jungfrauen weiter,
»so sollst du uns willkommen seyn. Wisse aber, daß, wenn du
erst drei Tage verweiltest, du dann nie wieder in deine Heimath zurückkehren
kannst; denn du würdest dich nicht wieder an die obere Luft gewöhnen
können, und sterben müssen.«
Die Freundlichkeit der Schwestern flößte dem Knaben Zutrauen
ein. Sein kindliches Gemüth hatte kein Arg, und bald sprang er von
seinem Lager auf, und rief fröhlich aus: »Ich bleibe bei euch!«
Nun führten ihn die Holden in ihrem großen Feenpallaste herum.
Sie zeigten ihm die Pracht und die Schönheiten, mit denen ein Gemach
immer reicher als das andere geschmückt war, und nicht satt konnte
sich der in Dürftigkeit empor gewachsene Knabe sehen. Das flimmerte,
das glänzte! Da gab's Perlen, wie welsche Nüsse; Diamanten,
wie Hühnereier. Das Gold lag in langen Stangen herum, und mit Silberplatten
waren alle Wände, alle Fußböden getäfelt. In den
Gärten wuchsen Früchte so köstlich, als er sie noch nie
gesehen.
Aepfel, wie ein Kinderkopf; Pflaumen, wie ein Straußenei; Kirschen,
wie eine Billardkugel; Trauben, wie sie einst Josua trug, und dergleichen
mehr, alles mit den schönsten Farben geschmückt.
Der Knabe hatte oft vom Paradiese gelesen. »Das,« sagte er,
»ist's gewiß, hier gefällt's mir!«
Wochen und Monate verschwanden ihm, und er gewahrte es nicht; denn immer
neue Gegenstände reizten seine Aufmerksamkeit und beschäftigten
seine Sinne. Besonders oft hielt er sich unter den mit Früchten prangenden
Bäumen auf, und naschte. Der Heimath gedachte er gar nicht.
Endlich aber, es mochte wohl ein Jahr verflossen seyn, da ergriff ihn
mit einem Mal eine unwiderstehliche Sehnsucht nach seinem Dörfchen.
Nichts gefiel ihm, nichts schmeckte ihm mehr. Aber eingedenk der Worte:
von hier nie wieder zurückkehren zu können, verbarg er den geheimen
Kummer in seinem Innern, und nur wenn das dicke Gebüsch der Gärten
ihn umgab, dann weinte er bitterlich. Sahen ihn die drei Schwestern, so
zwang er sich, freundlich zu seyn, aber die Spuren des Kummers auf seinem
Gesichte, die bleichen Wangen, die roth geweinten Augen, die konnte er
nicht verbergen, und sie verriethen endlich den Streit in seinem Innern.
Zutraulich fragten sie ihn oft, was ihm fehle, aber er verschwieg immer
den wahren Grund, und suchte durch allerlei Entschuldigungen und Vorgeben
von Kränklichkeit sie zu täuschen.
Einst lag er beim Untergang der Sonne auf weichem Rasen an einem Bache
hingestreckt. Die ganze Natur um ihn her war so reizend, so üppig,
so schwelgerisch. Alles ladete zur Freude und zum Genuß ein. Wohlgerüche
erfüllten die Luft. Ihr Abendlied sangen die Vögel, und auf
der Wiese vor ihm schäkerte im bunten Gemisch ein Häufchen fröhlicher
Arbeiter. Da trat das Bild seiner Heimath, seines lieben Dörfchens,
der Kreis seiner Gespielen, seine Mutter, wie sie um ihn weine, lebhaft
vor seine Phantasie, und laut schluchzte er auf, und bitterlich weinte
der gute Knabe. Das Gefühl seiner unglücklichen Lage bei all'
der Fülle von Ueberfluß und Reichthum, von Genüssen jeder
Gattung, war nie so lebhaft in ihm rege geworden. Mit beiden Händen
verhüllte er sein Gesicht, und barg es im hohen Grase. Reichliche
Thränen befeuchteten die Erde unter ihm, und laut jammerte und weinte
er.
In diesem Zustande der höchsten Anspannung und Reizbarkeit hörte
er seinen Namen nennen. Er fuhr auf, und siehe, da stand vor ihm ein altes
buckliches Weib, häßlich und widrig. Braun und in tiefen Falten
gelegt war ihr Gesicht, rothbraun die lange Nase, triefend die Augen,
und an einem dicken Stabe hielt sie ihren morschen und vertrockneten Körper
aufrecht.
Nie hatte der Knabe eine so scheusliche Menschengestalt gesehen. Kalt
überlief es ihn. Er wollte um Hülfe schreien, er wollte fortlaufen,
aber er konnte nicht.
»Was willst du?« fragte er endlich mit zitternder Stimme.
»Hi hi hi!« grinste das Scheusal, »wenn du lieber Junge
mir versprichst, mich zu heirathen, so will ich dich auch in deine Heimath
zurückbringen.«
»Fort, du Ungeheuer!« erwiederte der Knabe voll Ingrimm, »fort!
Nimmer verlasse ich meine Wohlthäterinnen ohne ihren Willen, und
lieber will ich sterben und meine Heimath nie wieder sehen, als dir häßlichem
Geschöpfe folgen!«
Kaum hatte er die letzten Worte ausgesprochen, so zerfloß die häßliche
Figur in Nebel, und vor ihm standen die drei Schwestern.
Er staunte sie sprachlos an. Da sprach die Eine:
»Weil du so redlich gegen uns denkst, so soll dir dein geheimer
Wunsch gewährt seyn. Du sollst zu den Deinigen zurückkehren.«
Freude und Dankbarkeit machten den Knaben stumm. Er weinte, daß
er gehen durfte; er weinte, daß er seine Wohlthäterinnen verlassen
sollte. Er wollte gern fort, und wollte doch nun auch gern bleiben. Er
konnte nichts, als weinen. Unruhig wälzte er sich auf seinem Lager
herum, und erst spät in der Nacht schlief er ein.
Als er am andern Morgen erwachte, lag er am Ufer des wohlbekannten See's.
Er blickte auf, sah die drei Schwäne, streckte seine Arme nach ihnen
aus, sie nickten ihm freundlich zu, tauchten unter, und nie sah er sie
wieder.
Im Dörfchen war Freude und Erstaunen über sein Wiedererscheinen.
Alles versammelte sich um ihn her, hörte mit weit aufgesperrtem Munde
zu, was der Knabe erzählte, aber niemand glaubte ihm ein Wort.
Nach der ersten Freude, seine Heimath wieder gesehen zu haben, fand sich
aber wieder eine leise Sehnsucht nach dem unbekannten Lande ein. Sie wuchs
mit jedem Tage. Umsonst lief er oft zum See, die Schwäne erschienen
nicht wieder. Er weinte von neuem, er härmte sich ab, nirgends fand
er Ruhe. Immer seufzte er nach jenen paradiesischen Gefilden, und immer
vergebens. Da bleichten seine Wangen ab. Langsam schlich er noch um den
See, setzte sich ermattet an das Ufer, entschlummerte, und nie erwachte
er wieder.
* * *
Badensche Wochenschrift von 1807.
Quelle: Friedrich Gottschalck, Die Sagen und Volksmährchen der Deutschen, Halle 1814