Der Ausgang der Hamelnschen Kinder.
Bei der Stadt Hameln liegt gegen Morgen, vor dem Osterthore, ein mäßiger
Hügel, der Koppelberg genannt. An diesem bemerkt man eine Vertiefung
nebst zwei steinernen Kreuzen, welche das Andenken an eine furchtbare
Begebenheit erhalten sollen, die sich hier im Jahre 1284 am 26sten Junius
zugetragen hat.
Um diese Zeit war nämlich die Stadt Hameln mit einer furchtbaren
Menge Ratten geplagt. Ueberall wimmelte es von diesem Ungeziefer, gegen
welches kein Schloß, keine Falle, kein Riegel, kein Pulver half.
Sie zehrten alles auf, zernagten, was sie nicht fressen konnten, packten
das Vieh in den Ställen an, bissen die Menschen des Nachts in den
Betten; und wenn auch hier Tausende todt geschlagen wurden, so kamen dort
neue Tausende zum Vorschein. Kurz, die armen Hamelenser waren eben so
arg geplagt, wie einstens die Aegypter.
Da erschien ein Mann in der Stadt, der war wunderlich gekleidet, und machte
laut kund: »er wolle das Ungeziefer verbannen, wenn man ihm ein
gutes Stück Trinkgeld gäbe.« Wer war froher, als die Einwohner,
die noch Geld genug, aber kein Brot hatten. Sie versprachen daher dem
Manne zu geben, was er verlange, nur möchte er sie bald von ihrem
Uebel erlösen.
Sie dachten, er besäße vielleicht ein unfehlbar wirkendes Rattenpulver,
oder bediene sich doch eines natürlichen Mittels zu seinem Zwecke.
Aber, was geschah? Der wunderlich gekleidete Mann nahm ein Pfeifchen aus
seiner Tasche, blies darauf, und ging so durch die Straßen. Da stürzten
aus allen Häusern, aus allen Winkeln, Kellern, Gärten und Höfen
die Ratten schaarenweise hervor, und folgten dem Pfeifer nach. Die erstaunten
Einwohner folgten auch; und als er nun alle Straßen durchgangen
hatte, und das Ungeziefer in solcher Masse hinter ihm drein wogte, daß
manche Straße zu eng war, führte er sie an das Ufer der Weser.
Hier sprach er einige fremde kauderwälsche Worte, hob seinen bunten
Stab auf, und siehe, die ganze Rattenmenge stürzte sich in die Fluth
und verschwand.
Den Einwohnern standen bei diesem Anblicke die Haare zu Berge. Mit natürlichen
Dingen ging das nicht zu. Der fremde Mann mußte ein Hexenmeister
oder gar der Teufel selbst seyn. In beiden Fällen hielten sie sich
nicht für verpflichtet, ihm die versprochene Zahlung zu leisten;
und so sehr auch der »verfluchte Bube« - so nennt ihn das
Mährchen - darauf bestand, so verweigerten sie sie ihm doch hartnäckig,
fürchtend, er banne ihnen das Rattenheer von neuem auf den Hals.
Darob ergrimmte der Zaubermann entsetzlich, und beschloß, sich dafür
recht weidlich zu rächen. Als nun eines Sonntags die Bürger
alle in den Gotteshäusern waren, ging er wieder mit seinem verwünschten
Pfeifchen durch alle Straßen. Ratten gab es nicht mehr, dafür
kamen aber die Kinder aus den Häusern und zogen ihm gleich jenen
nach. Als er nun hundert und dreißig Knaben und Mädchen beisammen
hatte, ging er mit ihnen durch die enge bungelose Straße zum Osterthore
hinaus nach dem Koppelberge zu.
Ein Dienstmädchen, das mit einem kleinen Kinde im Mantel am Thore
stand, war neugierig zu sehen, was daraus werden solle, und folgte dem
Kinderschwarme. Als nun der Mann, der den Zug anführte, an den Berg
kam, öffnete sich dieser, er ging hinein, alle Kinder mit ihm, und
schwapp! da schlug die Oeffnung zu, und weg war alles.
Zitternd und bebend eilte das erschrockene Dienstmädchen zurück,
und erzählte die traurige Begebenheit.
(Nach einer andern Lesart sollen zwei von den hundert und dreißig
Kindern umgekehrt und in die Stadt gekommen seyn. Eins davon wäre
blind, das andere stumm gewesen. Das letztere habe die Gegend des Berges,
wo er sich geöffnet, angezeigt, und das blinde die Erzählung
dazu geliefert.)
Die Nachricht war indessen kaum kundbar geworden, als alles aus den Kirchen
heraus und nach dem Koppelberge stürzte. Das war ein Klagen und ein
Jammergeschrei, ein Rufen und ein Weinen. Aber umsonst, der Berg blieb
verschlossen, und die Kinder kamen nicht zurück. Nur eine Vertiefung
gewahrte man an dem Berge, die der Eingang gewesen zu seyn schien.
Weit und breit schickte man Boten aus, zu forschen, ob nicht irgendwo
Kunde von den verlornen Kindern zu erhalten sey, aber vergebens. Viele
glaubten, der Satan habe dem Dienstmädchen ein Blendwerk vorgemacht,
und die Kinder wären von ihm nicht in den Berg, sondern durch die
Lüfte und nach Siebenbürgen entführt worden. Denn um eben
diese Zeit - solches schreibt die Siebenbürgensche Chronik - wären
in diesem Lande mit einem Male eine Menge Kinder angekommen, die eine
unbekannte Sprache geredet hätten. Sie wären da geblieben, ihre
Sprache hätte sich fortgepflanzt, und so wäre es gekommen, daß
in diesem Lande eine andere, als die sächsisch-deutsche Sprache geredet
werde.
Die Stadt Hameln hat nach dieser Begebenheit mehrere Jahre lang ihre Ausfertigungen
datirt, wovon noch Documente vorhanden seyn sollen. Die kleine Gasse,
durch welche die Kinder zum Thore hinausgeführt wurden, heißt
noch jetzt die Bungelose Gasse. Es wurde nämlich von dem Magistrat
verordnet, daß bei Gelegenheiten, wo Musik und Spielwerk auf den
Straßen erschalle, zum ewigen Andenken in dieser Straße nie
eine Trommel (Bunge) gerührt werden solle.
* * *
Diese Erzählung hat allerdings ihren historischen
Grund, ist aber durch eine falsche Deutung verstellt worden. Die wahre
Geschichte ist diese. Der Abt zu Fulda verkaufte im Jahre 1252 die Stadt
Hameln und die Vogtey darüber an den 32sten Bischof zu Minden, Wedekind
oder Widekind. Hiermit war der Graf von Everstein nicht zufrieden, als
welcher bisher die Schutzgerechtigkeit oder Vogtey über die Stadt
und das Stift Hameln, als ein Lehn von Fulda, besessen hatte. Er reizte
daher die Bürgerschaft, sich dem Bischof zu widersetzen, der sich
jedoch mit Gewalt den Besitz der Stadt verschaffte. Als man seinen Anmarsch
erfuhr, rückten ihm die Bürger, am Tage des Märtyrers Pantaleon
1259, unter ihrem Anführer mit Trommeln und Pfeifen entgegen. Dieß
ist der Ausgang der Hamelnschen Kinder, die der Anführung eines Pfeifers,
der sie zusammenberufen hatte, folgten. Es kam zum Treffen bei Sedemünden
am Fuße des Koppelberges, das die Hamelnschen Bürger verloren,
und theils erschlagen, theils nach Minden geführt wurden. Zum Andenken
dieser Begebenheit feierte die Stadt jährlich einen Gedächtnißtag,
welchen sie den Ausgang ihrer Kinder nannte. Nachher machte die Stadt
mit dem Bischof einen Waffenstillstand, und in der Hoffnung, die Stadt
durch Güte zum Nachgeben zu bewegen, setzte der Bischof die gefangenen
Bürger auf freien Fuß. Diese eilten wieder nach Haus, und kamen
durch den nächsten Weg nach Hameln über die Sevenberge, welche
eine halbe Stunde von Hameln liegen. Es kamen also die Hamelnschen Kinder
in den Seven- oder Siebenbergen wieder zum Vorschein, woraus die Unverständigen
Siebenbürgen gemacht haben.
C.F. Fein, Das unter dem Ausgang der Hamelnschen Kinder verborgene Geheimniß.
Hannov. 1749. - Halberstädter gemeinnütz. Blätter 1788.
S. 130. - Bertuch's Modenjournal, Octoberheft 1813. S. 637. - v. Göthe
hat dieß Mährchen als Stoff zu einem Gedicht, »der Rattenfänger«
überschrieben, benutzt.
Quelle: Friedrich Gottschalck, Die Sagen und Volksmährchen der Deutschen, Halle 1814