Der Hautsee.
Zwischen Marksuhl und Vach, an der Leipziger Straße nach Frankfurt,
giebt es bei dem hessischen Dorfe Dönges einen kleinen See, den man
»Hautsee« nennt, weil ein kleines Insekt, gleich einer Haut,
auf seiner Oberfläche in großer Menge wie ausgespannt liegt.
Dieser See ist wegen einer schwimmenden Insel merkwürdig, die er
trägt. Sie gleicht einem Wäldchen, das mit Birken und Buschwerk
bestanden ist, zwischen welchem hohes Gras wächst, und wird vom Winde
hin und her getrieben. Die Zeit und die Art ihres Ursprungs ist unbekannt,
aber sie soll schon sehr alt seyn.
Wenn der Vorüberziehende mit Vergnügen beim Anblicke dieser
seltnen Naturerscheinung weilt, so wird er sich in eine Wunderwelt versetzt
glauben, wenn ihm ein treuherziger Anwohner erzählt, was sich hier
einst zugetragen hat, und noch zuträgt.
Der See färbt sich nämlich jährlich an einem Tage blutroth,
zum Zeugniß, daß vor undenklichen Jahren eine Jungfrau in
seinen Fluthen ihre bleibende Wohnung erhielt, aus der sie niemand befreien
noch lösen konnte.
Theodiska, so hieß sie, wurde von einem edlen Jünglinge geliebt,
liebte ihn wieder, sollte ihn aber nicht lieben. Ihre Mutter war reich
und geizig, wollte nur einen reichen und begüterten Eidam, und das
war Wilibald nicht, daher ihr Widerwille gegen die reine Liebe der unglücklichen
Theodiska. Alle Versuche, sich wechselseitig auf andere Gesinnungen zu
bringen, waren umsonst. Die Alte fluchte der Neigung ihrer Tochter, die
Tochter weinte über die grausame Unbiegsamkeit der Mutter, und als
jene ihr einmal mit aller Heftigkeit zusetzte, dem Wilibald zu entsagen,
da blickte Theodiska weinend zum Himmel, und schwur im Angesicht der Mutter,
daß sie nie, nie dem trauten Jünglinge untreu werden würde,
und nur der Tod ihr Versprechen lösen solle.
Da brach die Unglückliche selbst den Stab über sich. Die geizige
Alte schnob nach Rache. Alles Muttergefühl verläugnend, brütete
sie einen Plan zur Vernichtung der Tochter, der einzigen, die sie hatte.
Bekannt mit den schwarzen Künsten des Unterreichs, vertraut und einig
mit der Nixe des Hautsee's, beredete sie sich im Dämmerlicht mit
dieser, ihr zu helfen, daß Theodiska Magd im Dienst der Wassergöttin
werden müsse, wenn sie ihrer Liebe nicht entsage. Die Nixe, lüsternd
nach Beute, schürte das Feuer noch recht an, erstickte auch den letzten
Funken mütterlichen Gefühls durch große Versprechungen
von Reichthümern, so daß die Alte es einging, das Kind mit
dem ersten Mondwechsel ihr zuzuführen.
»Komm!« sprach sie einst an einem schwülen Sommerabend
zu Theodiska, die still vor sich hinsehend vor der Thür des Hauses
saß, »komm, laß uns nach der schwimmenden Insel hinwandeln,
dort ist's kühl und erquickend. Ich will dir mein Mutterherz öffnen,
denn ich fühle, daß mich bald das Grab umschließen wird.«
Theodiska hatte lange nicht die Mutter so herzlich sie anreden hören.
Sie folgte ihr daher unbefangen und voll Hoffnung, vielleicht eine frohe
Kunde zu hören. Aber die Mutter ging in sich gekehrt voran, sprach
wenig, und war düster im Blick, bis sie am Ufer des See's ankamen,
in dessen klarer Fläche das halb verhüllte Mondlicht sich spiegelte,
und rings umher eine schauerliche Stille herrschte.
»Komm,« sprach sie, »da laß uns setzen, dicht
an's Ufer, daß wir der Kühlung genießen!« und Theodiska
thats. Aber kaum saß sie auf dem üppigen Rasen, so berührte
sie aus den Fluthen der Zauberstab der Nixe, und die Unglückliche
schwindelte hinab in die Tiefe. Ihr Angstgeschrei verhallte bald, die
Nacht deckte das grausende Gemälde, und gesättigt von Rache
kehrte die Rabenmutter zurück.
Im Innern der Wohnung der Nixe erwachte Theodiska aus ihrer Betäubung.
Sie klagte, sie jammerte, und flehte um Erbarmen. Da sprach jene:
»Du sollst nicht ganz von der Erde losgerissen seyn. Bis du selbst
deinen neuen Aufenthalt lieb gewinnen wirst, sende ich dich jährlich
ein Mal zurück auf die Oberwelt, wo du dich in den Erntetanz mischen,
und dem Jünglinge dein reines, durch keinen Unfrieden getrübtes
Auge zeigen kannst.«
Aber welcher Trost war das für Theodiska, nur Einen Tag im langen
Jahre ihn zu sehen!
Wilibalds Entsetzen und Zorn war ohne Grenzen. Kaum hatte er die furchtbare
Nachricht vernommen, die Krokodilthränen der Mutter gesehen, und
gehört, daß der verrätherische Hautsee das Grab seiner
Liebe geworden, als er mit unaufhaltsamem Ungestüm dahin rannte,
sich in die Fluth stürzte, und so mit seiner Theodiska sich zu vermählen
glaubte. Aber auch diesen schönen Traum vergönnte ihm die See-Nixe
nicht.
Denn als Wilibald an ihrem Pallast anschlug, seine Theodiska verlangte,
hob ihn eine unsichtbare Macht wieder empor und an's Ufer. Umsonst versuchte
er es wieder, und immer umsonst. Da erkrankte der gute Jüngling,
schlich umher, härmte sich ab, und grämte sich, suchte Ruhe,
und fand sie endlich da, wo wir alle sie finden. Aber jährlich an
dem Tage, wo Theodiska verschwand, färbt sich noch jetzt zum Andenken
an diese traurige Begebenheit der See blutroth. Noch sind es keine hundert
Jahre, daß Theodiska jährlich im Spätherbst in ihrem Geburtsorte
erschien, sich unter die Jugend mischte, und dann um Mitternacht still
und feierlich nach ihrer unterirdischen Wohnung zurückging. Seitdem
aber kommt sie nicht mehr, und wohl scheint es, als habe ihr die Nixe
des See's die ewige Ruhe gegönnt, und die Vereinigung mit Wilibald
da, wo sich alles vereint, nicht länger gehindert.
* * *
A. Slevogt erzählt dieß Mährchen
im 104ten Stück der Erholungen 1813.
Quelle: Friedrich Gottschalck, Die Sagen und Volksmährchen der Deutschen, Halle 1814