Der Mummelsee.
Drei Stunden von der Stadt Baden, im Großherzogthum gleiches Namens,
erhebt sich gegen Mittag aus der hohen Bergkette des Schwarzwaldes der
kahle Rücken des Herrnwieser Berges. An seiner Südseite versteckt
sich in einem hoch liegenden Thale das Dörfchen Herrnwiese, und drei
Viertelstunden von da breitet sich ein kleiner See aus, der den Namen
des Dörfchens führt, vom Volke aber der Wundersee oder Mummelsee
(vielleicht wegen seiner vermummten, heimlichen Lage) genannt wird. Das
Klima ist hier rauh. Die Bäume in seiner Nähe haben ein verkümmertes
Ansehn. Seine Ufer sind, wie die des Lethe, öde und abgeschieden.
Kein Laut unterbricht die ewige hier herrschende Stille. Immer unbewegt
ist der schwarz beschattete Spiegel des Wassers, auf welchem die gelbe
Seerose (nymphaea lutea) ihre breiten Blätter entfaltet. Kurz,
es ist hier der Aufenthalt der Betrachtung, der Wehmuth und der Dichtung.
Von diesem stillen See leben in dem Munde der umwohnenden Landleute eine
Menge Sagen.
Da, wo er jetzt sein schwarzes Wasser ausbreitet, stand sonst eine heilige,
Gott geweihte Wohnung, wo, in tiefer Abgeschiedenheit von des Lebens stürmischen
Trieben, kindlich fromme Seelen der Andacht lebten.
Durch langer Zeiten Räume herrschte hier heilige Ruhe, welche jetzt
aber zum tiefen, schauerlichen Schweigen geworden ist. Denn plötzlich
zernichtete des Himmels Zorn diese geweihte Stätte. Vergebens fragst
du: warum? Nur mit stillem, mit ehrfurchtsvollem Blicke weiset der fromme
Landmann dich hin auf die unergründlichen Wege der Vorsehung.
Als einst am frühen Morgen des Thales Bewohner den steilen Berg hinanklimmten,
um an geheiligter Stätte der Andacht zu pflegen, und ihre frommen
Gaben zu bringen, und sie nun des Berges Höhe erstiegen hatten, suchte
vergebens ihr Blick das Kloster. Keine Spur war mehr davon übrig,
an seiner Stelle aber ein See, in dessen schwarzem Spiegel sie umsonst
die Trümmer des versunkenen Gebäudes zu erspähen sich mühten.
Mit geheimem Grauen wanderten sie zurück, und verkündeten ihren
Brüdern dieses schauerliche Ereigniß. Einsam blieb seitdem
diese Stätte, und selten betreten vom Fuße verirrter oder neugieriger
Wanderer. Aber noch lange Jahre zeigten sich die wohlthätigen Geister
des See's. In die nächsten Wohnungen des Thales kamen sie bei nächtlicher
Weile. Oft, wenn die Hausfrau oder ihre Mägde des Morgens zur Arbeit
aufstanden, fanden sie schon die Küche gereinigt, das Geräthe
blank gescheuert, das Brot gebacken, und dergleichen Arbeiten mehr verrichtet.
Auch pflegten sie der Rinder und Schafe, und machten das Werk des Landmanns
gedeihen. In den Thälern am Gebirge, und in der weiten Ebene des
Rheingaues, weideten nirgends schönere Heerden, als in den Thälern
von Seebach und Achern.
In der Gestalt einer Jungfrau traf einmal eine der geistigen Bewohnerinnen
einen Hirtenknaben im Gebirge, und gewann sein Herz durch die Reize ihrer
Gestalt. An einer Quelle kamen sie täglich zusammen, und koseten
hier in traulichen Gesprächen, bis der Abendstern durch die Tannen
flimmerte. Der Knabe spielte in ihren weichen langen Haaren, und sie lehrte
ihn viele wunderschöne Lieder. So oft sie sich aber trennten, so
warnte sie ihn auch, ihr nie zum See zu folgen, und sie nie dort aufzusuchen,
wenn sie auch mehrere Tage ausbleiben sollte.
Einst harrte ihrer der junge Hirt vergebens zwei lange Tage hindurch.
Beim Frühroth des dritten konnte er's nicht länger ausdauern.
Die Sehnsucht nach der Geliebten zog ihn zu dem See hin.
Alles um ihn her war still und öde. Er sah nichts. Traurig setzte
er sich an's Ufer, und rief laut ihren Namen. Da vernahm er ein Aechzen
tief unten im Schooße des dunkelschwarzen Gewässers, und plötzlich
färbte sich dieß blutroth.
Den Knaben ergriff ein kalter Schauder - »sie ist todt!« -
rief er aus, eilte weinend nach Hause, und - starb.
Auf Kinder und Kindeskinder pflanzte die Güte der wohlthätigen
Geister des See's sich fort, bis einst die Enkel, ohne es zu wollen, sie
verscheuchten. Oefter hatten nämlich schon die Bewohner des Thals
die nächtlichen Gäste belauscht und sie gesehen, wie sie in
ärmlicher Kleidung, die kaum ihre Blöße bedeckte, einherwandelten.
Da hielten sie Rath zusammen, und wurden eins, zum Danke den freundlichen
Geistern neue Bedeckung zu schaffen, damit sie stattlicher ihre nächtliche
Reise könnten beginnen, und zierliche Kleider hingen sie auf an dem
Orte, welchen die nächtlichen Geister besuchten. Aber, zürnend
über die Geschenke der beschränkten Thalbewohner, obgleich sie
gutmüthig ihnen geboten waren, und zürnend, daß sie belauscht
wurden in ihrem stillen Wirken, kehrten die Geister zurück, und keines
Sterblichen Auge hat sie seitdem erblickt.
Erst nach langen Jahren, in unsern die Vergangenheit so oft verschmähenden
Tagen, gaben sie wieder ihr Daseyn zu erkennen. Denn als einst die Mönche
eines benachbarten Klosters in dieser wilden Gegend sich mit der Jagd
vergnügten, kamen sie auch an des See's Rand. Der kindlichen Sage
spottend, beunruhigten sie die stille Behausung der Geister, und schossen
in die Wellen. Aber eine zürnende Stimme, gleich dem Brausen des
Waldstroms, erhob sich aus der Tiefe des See's, und es begannen die vorher
ruhigen Wellen sich mächtig zu heben, und in furchtbarem Aufruhr
schlugen sie an die sie begrenzenden Felsen, daß es wiederdröhnte
weit umher in dem Walde.
Furchtsam flohen die Mönche aus dem Gebiete der zürnenden Geister,
und suchten durch Messelesen und Gebet sie wieder zu versöhnen. Noch
jetzt betet, auf ihre Verordnung, der Thalbewohner in nächtlicher
Stille jedes Mal einen Rosenkranz, damit die beleidigten Geister wieder
versöhnt werden, und aufs neue sich mit ihnen befreunden.
* * *
Ich bin sehr versucht, diese Sage in ihrem Ursprunge
als eine symbolische Dichtung zu betrachten. Die Seerose, welche in dem
Mummelsee wächst, schließt Abends ihren Kelch, senkt sich ins
Wasser hinab, und erhebt und entfaltet sich wieder beim ersten Morgenstrahl.
Das Kommen und Verschwinden dieser Blume bezeichnet sich sinnbildlich,
schön und treffend im Erscheinen und Untertauchen einer Nymphe. Die
Phantasie gab dem Schein das Leben, auch die höhere und gefälligere
Form desselben; und so entstand vielleicht die Sage von den Jungfrauen
in den Seen der Gebirge. - Badensche Wochenschrift v. 1807. Morgenblatt
1813. 11s Stück.
Quelle: Friedrich Gottschalck, Die Sagen und Volksmährchen der Deutschen, Halle 1814