Notburga.
Am Neckar steht eine Burg, die man Hornberg nennt, und der man's nicht
ansehen sollte, daß vor vielen hundert Jahren schon einmal ein Kaiser
seine Hofhaltung darin hielt. Denn die Thürme stehen noch fest, und
die Mauern können noch lange dem Winde und Wetter trotzen. Der Kaiser
nun, der da wohnte, hatte eine Tochter, die hieß Notburga. Eine
feine Dirne war's, schlank und schön von Gestalt, dem Ritter Otto
treu ergeben, der hinausgezogen war ins fremde Land, zu streiten. Aber
er kehrte nicht wieder, und da stand sie an ihrem einsamen Erkerfenster
Morgens, Mittags und Abends, und oft auch um Mitternacht, und schaute
hinüber in den Wald, oder hinab in den Neckar, oder hinauf zum stillen
Himmel. Aber wie lange sie auch hinausschaute in die ruhige Nacht, so
wollt's doch nicht ruhig werden in ihrer Brust. Und wenn der Sturmwind
an ihrem Erkerfenster vorüberbrauste, so stand sie auch oft da, und
ihre Seufzer flogen mit dem Sturmwinde in die Welt hinein, und ihre Thränen
fielen oft mit den Regentropfen hinab in den Zwinger, und die Maslieben
blüheten immer frischer, und die Kartheusernelken blüheten immer
rother davon auf, und achteten's nicht, daß sie mit Thränen
genetzt wurden. Aber Notburga's Wangen wurden immer bleicher und immer
bleicher, und achtete lange niemand darauf.
Da trat der Kaiser, ihr Vater, eines Tages zu ihr, und sprach mit seinem
rauhen Tone:
»Mach' dich gefaßt, Burga, dein Bräutigam wird in drei
Tagen kommen.«
Darauf ging er wieder von ihr. Aber Notburga sank auf einen Stuhl, und
verhüllte ihre Augen. Und als nun die Nacht kommen war, stand sie
an ihrem Erkerfenster, und starrte in den dunkeln Nachthimmel, und die
Thränen flossen ihr häufiger, als sonst.
»Mein Otto, mein Otto!« sprach sie, »so hast du mich
vergessen, hast vergessen deine treue Notburga, - vergessen in den Armen
fremder Dirnen, und ist dein Herz kälter worden im Lande, wo die
Sonne wärmer scheint? - Oder, fielst du unterm Schwertstreich der
Feinde, und ruhst nun unter der braunen Erde, oder schläfst unterm
grünen Rasen, die gelben Schlüsselblumen über deinem Herzen?
- Ach, daß ich bei dir ruhen könnte in der Grabesstille! -
Muß so einsam trauern in der Welt, schwanke nur noch, wie ein dünnes
Rohr, das der Wind zu knicken droht, und meine Wangen sind erbleicht.
- Und soll nun mit den bleichen Wangen sitzen unter den Gästen, und
als Braut, als Braut, und mein Bräutigam, mein Otto, soll nicht bei
mir sitzen! - O, daß ich eine treue Seele hätte, die mich führte
weit, weit von hier, die mich geleitete in eine Wildniß, wo ich,
fern von den Menschen, nur mir lebte, nur dein gedächte und Gottes,
unsers Gottes, und Christi, und der gebenedeieten Jungfrau!«
So klagte die holdselige Jungfrau, und wußte sich keinen Rath und
keine Hülfe. Denn ihrem Vater traute sie sich nicht zu widersetzen,
und konnte doch nur den armen Otto lieben, und Otto war selbst nicht mehr
zurückgekommen, und hatte ihr auch nicht Botschaft gesandt ein ganzes
Jahr, ob er noch lebe.
Aber ihr alter treuer Diener, Kaspar, hatte ihre Klage gehört unter
ihrem Fenster, und rief ihr zu, und versprach ihr, sie zu führen,
wohin sie begehre. Das schoß ihr durch die Seele wie ein Blitzstrahl,
und sie machte sich auf und floh noch zur selben Stunde aus ihres Vaters
Burg, und wollt' hinüber über die Waldhöhe nach der Kapelle
zu St. Michael flüchten, zu dem alten weißhaarigen Greise,
der dort einsiedelte. Bei dem wollte sie sich Raths erholen, was sie thun
solle, und wie sie sich des verhaßten Ehebundes mit dem Heidenfürsten
entschlagen könne.
Aber kaum war sie an die Waldhöhe gekommen mit ihrem Diener, so sprang's
schnell hinter ihnen her, und als sie sich umsahen, siehe! da erkannte
Notburga den weißen Hirsch, den Otto gefangen und gezähmt hatte.
Und er hielt still bei der Jungfrau, und blickte sie mit Augen an, die,
wie bei den Menschen, vor Freude glänzten. Und Notburga küßte
das fromme Thier, als ob's ihr Otto selber wäre, und lachte und weinte
dazwischen, und setzte sich auf den bekannten Sattel, auf den sie Otto
selbst oft gehoben. Aber kaum fühlte der Hirsch, daß sie fest
saß, so machte er einen Satz über den Weg hinüber, und
verschwand mit ihr zwischen den Bäumen.
Da stand der alte, treue Kaspar, und wollte nacheilen, und vermocht's
nicht, so zitterten ihm die Kniee; er wollt' ihr nachrufen, und vermocht's
nicht, so zitterte ihm die Stimme. Doch als er noch so stand, und gern
helfen wollte, wenn er nur gekonnt hätte, da sah er hinab, und sah
den Hirsch in den Neckar springen, und hinüberschwimmen, und Notburga
sah er noch winken im Mondscheine mit dem weißen Tuche. Und glücklich
sah er Notburga am andern Ufer auf dem Hirsche, aber zwischen dem Gebüsch
verschwand sie im Schatten, den die Berge darauf warfen.
Als der Vater am andern Morgen erwachte, dachte er daran, seiner Tochter
Notburga die goldenen Spangen und die kostbaren Ringe und Perlen ihrer
verstorbenen Mutter zu geben, daß sie sich an ihrem Brauttage damit
schmücke, und sie fortan trage. Als er aber zu ihr schickte, war
sie nicht zu finden, nicht in ihrem Gemach, nicht im Garten, nicht unterm
Apfelbaum, wo sie sonst oft saß. Und der Vater fragte bei allen,
ob niemand erfahren, wohin seine Tochter verschwunden sey; aber niemand
konnte ihm Nachricht geben. Und er fragte auch Kasparn, aber Kaspar fürchtete
sich, und sagte: er habe davon keine Kunde.
Da sandte der Vater bekümmert Boten aus, aufwärts und abwärts
am Neckar, und im Gebirge, aber niemand brachte von Notburga Kunde zurück.
Und er sandte Boten von neuem aus, die nach ihr späheten, und ritt
selbst hinab, und fragte in allen Burgen, bis an das Schloß Minneberg,
und die Ritter der Burgen geleiteten ihn mit ihren Mannen, und zeigten
ihm die verborgensten Winkel der Felsen, und die dichtesten Stellen ihrer
Forste, aber Notburga konnten sie ihm nicht zeigen.
Auf Hornberg hatte aber die Mittagsglocke geläutet, und der alte
Kaspar stand an seinem Fenster, da kam Notburga's Hirsch in den Zwinger,
und schaute durch die Scheiben, und es däuchte Kaspar, der Hirsch
sey traurig, und sprach für sich: »Ja könntest du nur
reden, gutes Thier, und sagen was dir fehlt, ich wollte dir ja gern helfen.
Hast du vielleicht Hunger?« fragte er, und ging hin, und nahm das
Brot vom Tisch, den er sich schon gedeckt hatte, und wollt' ihm ein Stück
abschneiden. Als er aber wieder an's Fenster kam, hielt der Hirsch den
Kopf nieder, und bot ihm sein Gehörn dar, und blieb ruhig stehen.
»Ja was soll ich denn damit machen?« sagte Kaspar lachend,
und besann sich, was der Hirsch wohl damit meine. Endlich sagte er: »Soll
ich dir denn ein Stück an's Geweih stecken? Ei nun, man sagt ja,
ein Stück Brot sey besser, als eine Feder auf dem Hut,« und
damit schnitt er ein Stück ab, und steckt's dem Hirsch an ein Ende
seines Geweihes, und schnell richtete sich der Hirsch auf, und lief damit
fort, dem Neckar zu.
Und als Kaspar des andern Tages wieder an sein Fenster kam, stand der
Hirsch schon wieder da, und hielt sein Gehörn hin. Aber er sah ein
großes Eichenblatt daran gebunden mit einem Band. Doch als er dieß
los machte, erkannt' es seine Frau, die er herzurief, für Notburga's
Strumpfband; denn ihr Name stand mit Gold darauf gestickt, und auf dem
Eichenblatt stand mit einer Nadel eingeritzt:
»Gott zum Gruß!
Notburga dankt dem Geber
des Manna in
der Wüsten.«
Als aber Kaspar und Else mit Mühe diese Worte gelesen, da liefen
den alten Leuten die Augen über von Thränen. »So hat der
fromme Hirsch das Brot gebracht!« rief Kaspar; und »Gott,
ach Gott!« schluchzte Else, »die zarte Jungfrau in der Wüste,
nur genährt von unserm trocknen Brote!« und ging, und holte
ein gekochtes Huhn, und band's dem Hirsche mit dem Strumpfbande an, und
der Hirsch trug's schnell wieder bergab, dem Neckar zu, und kam erst am
zweiten Tage wieder, und nur von Zeit zu Zeit, und die alten Leute gaben
ihm immer ihr Bestes mit. Dafür brachte er manchmal ein paar dankbare
Worte auf einem Blatte.
Aber der Vater Notburga's war heimgekommen von seinem Streifzuge, und
hatte nichts von seiner Tochter erforscht; denn an das andere Ufer dachte
er nicht, weil hinauf und hinab keine Fähre war, weit und breit,
die sie hätte hinüberfahren können; auch der Bräutigam
Notburga's war kommen mit hochzeitlichem Geleite und im festlichen Schmucke,
aber er war auch wiederum heimgezogen, ohne die Braut mit sich zu führen.
Schon war der Kukuk verstummt und die Nachtigallen, die bei Notburga's
Flucht zum ersten Mal gesungen, da machte endlich der weiße Hirsch
den Vater aufmerksam. Und als er immer und immer wieder kam, und er ihn
endlich ein Mal vor Kaspars Fenster stehen sahe, da ging er zu Kaspar,
und fragte nach des Thieres seltsamen Gängen. Und Kaspar gestand
in der Bestürzung alles, was er wußte; denn eben band er dem
Hirsche ein Tüchlein mit reifen Sommeräpfeln von Notburga's
Lieblingsbaume an.
Flugs machte sich nun der Kaiser auf mit seinen Rittern und Edelknechten,
und verfolgten zu Pferde den Hirsch. Und als er sich in den Neckar stürzt,
da sprengt auch der Kaiser hinein, und ihm folgten auch die andern auf
ihren Rossen.
Drüben verschwand der Hirsch zwischen den Sträuchern, aber der
Kaiser sprengte schnell nach, und sah ihn noch im Blick in eine Höhle
rennen. Und als er abstieg, und mit seinem Gefolge hineintrat, lag er
auf weichem Moos, und Notburga kniete mit gefalteten Händen vor einem
Crucifix, das ihr Kaspar auch geschickt hatte, und betete. Da erschrack
der Vater, denn sie sah ganz todtenbleich aus, weil sie nicht mehr hervorgekommen
war an das Sonnenlicht, seit der Hirsch sie hierher trug.
Und er sprach mit linden Worten zu ihr, und bat sein Kind: daß es
ihm doch wieder folgen möchte auf die Burg, und sein Kind seyn, wie
vorher.
Notburga aber sprach: »Ich habe mein Leben Gott gelobt, und suche
nichts mehr bei den Menschen.« Und wenn der Vater in sie drang,
antwortete sie immer mit diesen Worten. Da ward er endlich zornig, und
faßte sie beim Arm, und wollte sie mit Gewalt mit sich ziehen. Sie
aber legte ihre andere Hand an ihr Crucifix, da trennte sich der Arm von
ihrem Leibe, und blieb dem zornigen Vater in den Händen, daß
ihn und alle, die mit ihm waren, ein grauses Entsetzen ankommt, und alle
von hinnen fliehen. Und keiner begehrte mehr der Höhle und dem andern
Ufer zu nahen.
Aber von Stund an ward sie als eine Heilige vom Volke geehrt, und wenn
zum frommen Klausner bei der Kapelle zu St. Michael reuige Sünder
kamen, so schickte er sie wallfahrten nach der frommen Notburga, und Notburga
betete für die Büßenden, und hoch begnadigt kehrten sie
mit ruhigem Herzen zurück.
Als darauf im Herbste die Blätter fielen, und Notburga auch zu sterben
kam, da schwebten die Engelskindlein herab, und trugen die Sterbende heraus
aus der Höhle, und legten ihr Crucifix auf die Brust, und sie schlug
die brechenden Augen nochmals auf, und schaute hinauf gen Himmel, und
seufzte freudig: »Ja, Otto! ich sehe dich winken, du bist schon
dort! Ich komme!«
Damit entschwebte ihre Seele. Die Engel hüllten ihre Leiche in ein
Todtengewand, und schmückten sie, ob's gleich im Herbste war, mit
frischen Frühlingsrosen, und legten sie in einen Sarg, und zwei schneeweise
Stiere, die noch nie ein Joch getragen, trugen ihn über den Fluß,
ohne die Hufe zu benetzen; die Glocken in der Nachbarschaft läuteten
von selbst, und die Engel sangen ein himmlisches Chor dazu. So brachten
sie die heilige Leiche nach der Kapelle zu St. Michael, und begruben sie
dort.
Als aber Notburga dort war, kam Otto's und Notburga's Hirsch nicht mehr
vor Kaspars Fenster, um Manna für die Jungfrau in der Wüste
zu holen. Er war verschwunden.
* * *
In der Kirche des Dorfs Hochhausen am Neckar
wird noch jetzt das Bild der Notburga in Stein gehauen gezeigt. Auch die
Notburgenhöhle, gewöhnlich die Jungfernhöhle genannt, ist
noch zu sehen, und jedem Kinde bekannt. - Süd-Deutschlands Miscellen,
1813. Nr. 26.
Quelle: Friedrich Gottschalck, Die Sagen und Volksmährchen der Deutschen, Halle 1814