Der Ottiliensberg bei Freiberg.
Im Elsaß lebte einmal ein Graf von Hohenburg. Reich war er, sehr
reich, hatte viele Schlösser und Wälder und Knappen, und auch
eine schöne Hausfrau. Alles, was sein Herz wünschte, besaß
er, oder konnte er erlangen. Nur, was sich nicht mit Gelde erhandeln läßt,
eigene Kinder, die hatte er nicht. Er betete oft in der Kapelle seiner
Burg: Gott möchte seinen Wunsch erhören - denn auch ein frommer
gottesfürchtiger Mann war er -, aber es vergingen wohl zehn der Ehejahre,
und noch wiegte er keinen Erben seiner schönen Länder auf dem
Schooße. Da verzweifelte er ganz daran, je einen zu sehen. Aber,
unverhofft kommt oft! Im eilften Jahre gebahr ihm sein Weib ein Mägdlein.
So groß indessen die Freude vor der Geburt war, so groß war
das Leid nach der Geburt; denn das neugeborne Mägdlein kam blind
zur Welt.
Vater und Mutter jammerten, jedes für sich im Stillen, über
dieß traurige Schicksal, härmten sich ab und grämten sich,
daß ihre Freude so grausam verbittert worden. Doch, die Zeit, die
alles lindert, alles ebnet, machte ihnen das Unglück zur Gewohnheit,
und sie hatten das Töchterchen, das das einzige Kind blieb, recht
herzlich lieb. Es wuchs gesund und schlank heran, und wurde ein recht
feines und gutes Mädchen.
Ottilie, so hieß sie, war ungefähr vierzehn Jahre alt, als
sie - durch welchen Zufall, weiß man nicht - plötzlich das
Augenlicht erhielt. Die Freude der Eltern darüber war grenzenlos.
Große Pläne machten sie nun für Ottiliens künftiges
Schicksal, suchten sich unter den benachbarten Edeln und Rittern des Landes
einen stattlichen Schwiegersohn aus, oder setzten sie gar schon an die
Seite eines Rheinfürsten.
Nicht so Ottilie. Ihr früher Zustand hatte ihr einen Hang zur Schwärmerei,
zum Religiösen gegeben, und einen ewigen Bund mit dem Himmel zu schließen,
war ihr fester Entschluß. In der Erlangung ihres Gesichts gewahrte
sie einen Fingerzeig Gottes, ihrem Vorsatze getreu bleiben zu müssen,
und der stand denn auch felsenfest.
Da begab es sich, daß ein reicher Ritter des Gaues das schöne
Fräulein lieb gewann. Oft sprach er bei den Eltern ein, um Ottilien
näher kennen zu lernen, aber immer wußte diese sich unter irgend
einem Vorwande zu entfernen. Das gefiel zwar Anfangs dem Ritter, er hielt
es für jungfräuliche Züchtigkeit, aber den Eltern gefiel
es nicht. Sie hatten schon längst gemerkt, daß Ottilie geneigter
sey, sich mit dem Himmel, als mit einem Ritter zu vermählen, und
das wurde ihnen jetzt ganz klar. Sie hofften indessen, daß sich
das geben werde, und als daher der Ritter ihnen einen förmlichen
Antrag um die schöne Ottilie machte, so erhielt er ein fröhliches
Jawort, ohne daß die Hauptperson weiter befragt worden wäre.
Ottilie hatte eben ihr Abendgebet verrichtet, war frommen Herzens aus
der Burgkapelle in ihr Kämmerlein zurückgekehrt, und drehte
schon wieder züchtiglich die Spindel, als die Eltern zu ihr hereintraten.
Mit freudiger Gebehrde verkündigten sie, was geschehen sey, erzählten,
daß der Ritter ihrer harre, und sie nun, als seine Verlobte, ihn
begrüßen solle.
Da erhob sich die erschrockene Tochter von ihrem Sitze, schlug ein Kreuz,
und sprach:
»Ich bin schon eine Braut des Himmels, und kann nie eines Mannes
Gattin werden. Dieß schwöre ich bei dem Heile meiner Seele!«
Da erzürnte sich der Vater und wurde heftig. Die Mutter weinte. Aber
weder Bitten noch Drohungen halfen. Ottilie blieb fest entschlossen, blieb
standhaft, und erklärte nochmals, daß sie eher den Tod suchen,
als in den Willen ihrer Eltern sich je ergeben werde. Da schwur der erzürnte
Vater, diesen Starrsinn zu brechen. Er deutete Ottilien an, sich morgen
zur Hochzeit zu bereiten, und verließ sie im vollen Zorn.
Die arme Ottilie weinte. Ihrem Vorsatze getreu zu bleiben, war sie fest
entschlossen, aber sie wußte auch, daß der Vater auf seinem
Verlangen eben so fest beharren werde. Was nun machen! - Die halbe Nacht
verbrachte sie mit Ueberlegungen. Bald wollte sie das, bald jenes, und
immer kam kein Entschluß zur Reise.
Als aber die Hähne den grauen Morgen zu verkünden begannen,
da entschloß sie sich plötzlich, aus dem väterlichen Hause
zu fliehen. Sie nahm das Köstlichste ihrer Habseligkeiten mit, schlich
aus der hoch gelegenen Burg, und eilte nun schleunig und auf gut Glück
fort.
Als am Morgen in der Burg des Ritters schon alles wach und mit den Anstalten
zum Hochzeitfeste beschäftigt war, da fehlte noch immer Ottilie.
Und als sie noch immer fehlte, wie die Sonne schon hoch heraufgerückt
war, da ging der Vater auf ihre Kammer, sie zu holen. Aber leer war es,
das kleine Kämmerlein. Man suchte und suchte, man störte die
ganze weitläufige Burg aus, aber nirgends war das Fräulein zu
finden, auch nicht im Burggarten. Da wurde es allen glaubhaft, daß
sie entflohen sey. Der Ritter ließ nun alle seine Mannen aufbieten,
die Entflohene zu suchen. Alles setzte sich zu Pferde, und eilte nach
allen Weltgegenden. Auch der Vater und der Bräutigam ritten aus,
und nahmen ihren Weg nach der Stadt Offenburg im Breisgau zu.
Schon begann der Tag sich zu neigen, als sie bei dieser Stadt einen Berg
hinaufritten. Sie wollten von da die Gegend überschauen, und dann
in Offenburg zu Nacht bleiben. Da hörten sie plötzlich einen
lauten Schrei, und, als sie aufblickten, sahen sie Ottilien oben auf des
Berges Spitze stehen. Im Hui sprengten sie hinan, frohlockend, der Beute
gewiß zu seyn.
Ottilie weinte, hob die Hände gen Himmel, und bat die lieben Engelein
um Hülfe und Rettung. Da schützte der Himmel seine Braut. Unter
ihren Füßen öffnete sich der rauhe Fels, und vor den Augen
des Vaters und des Bräutigams sank Ottilie in die Tiefe hinab. Der
Fels schloß sich, und eine lautere Quelle lief aus einer kleinen
Oeffnung hervor.
Weinend und trostlos kehrte der Vater heim, und nie sah er seine Ottilie
wieder.
Das Wunder ward bald bekannt im ganzen Lande. Man wallfahrtete nach der
Stelle, trank von dem hellen Wasser, das sehr stärkend für schwache
Augen war, und ein Einsiedler baute nicht weit davon sich eine Wohnung
hin. Lange, lange pilgerte man nach dem Ottilienberge, der noch jetzt
diesen Namen führt.
* * *
Streifereien in einige Gegenden Deutschlands
(von Klinger). - Mad. Naubert, in den neuen Volksmährchen der Deutschen
1r Bd. Lpz. 1789. 8., hat diese Sage von S. 276 bis 361 romantisch bearbeitet.
Quelle: Friedrich Gottschalck, Die Sagen und Volksmährchen der Deutschen, Halle 1814