Der Burggeist auf Scharzfeld.
Auf einem hohen Vorberge des Harzes, unfern Osterode, liegen die Ruinen
der Burg Scharzfeld. Da hat vor ungefähr sechzig Jahren noch ein
hoher runder Thurm ganz vorn auf der Ecke gestanden, der hatte kein Dach,
und konnte auch keins darauf gesetzt werden. Denn wenn sie auch am Tage
daran bauen wollten, so nahm es der Burggeist des Nachts wieder weg, und
warf alles tief in den Abgrund.
Es war nämlich in der Burg eine große Schandthat verübt
worden vom Kaiser Heinrich, den man den Vierten nennt, und dafür
sollte das die Rache des Burggeistes seyn, daß er, zum ewigen Schimpf
der Burg, kein Dach auf dem Thurme litt.
Der Kaiser sah in Goslar die Frau des Burgherrn, der hieß von der
Helden, und war gesetzt über seine Bergwerke auf dem Harze. Die gefiel
ihm und die wollte er zu seinem Willen haben. Da schickte er den Mann
weg, gab ihm eine Verrichtung, daß er sich weit entfernen mußte;
und wie er nun ausgeforscht, daß die schöne Frau allein auf
der Burg sey, ritt er bei einem gräßlichen Unwetter um die
Burg herum, that, als jage er Wild, und wie denn das Wetter gar zu arg
ward, und lauter Feuerflammen am Himmel hin und her zischten, da sprengte
er rasch auf die Burg, als wolle er hier Schutz suchen. Die junge schmucke
Frau kam denn gar ehrbarlich dem Heinrich entgegen, verneigte sich züchtiglich,
kein Arg habend, und that Küch' und Keller auf, das Oberhaupt des
Reichs geziemend zu bewirthen. Aber nachdem er Speis' und Trank genossen,
begehrte der Kaiser mehr und immer mehr, und da hat er denn auch endlich
genommen, was er begehrte. Gar unchristlich war das vom Kaiser, und schlecht
von dem Pfaffen aus Pöhlde, der ihm beistand und zwingen half. Beide
dachten, sie hätten's gar heimlich getrieben, aber kaum war Heinrich
des andern Tages von dannen gezogen, da ging der Spuk los. Der Burggeist
war's der's verrieth. Schon viele Jahrhunderte lang hatte der auf Scharzfeld
sein Wesen getrieben, ließ sich bald da, bald dort hören, besonders
im runden Thurme; aber da er kein Böses that, so war man seiner gewohnt,
und ließ ihn poltern. Der erhob jetzt ein schreckliches Geheul und
Gebell, tobte in allen Kammern und Gemächern, und rüttelte die
Burg bis in ihre Grundfeste. Da schlug das Hofgesinde Kreuz auf Kreuz,
und die verführte Burgfrau sank auf ihr Angesicht, betend und weinend.
Aber der Burggeist war nicht böse. Er wollte nicht züchtigen,
er wollte nur weg von seinem alten Sitze, wo solche Schandthat verübt
worden. Drob erhob er sich im runden Thurme, fuhr unter Krachen und Schmettern
aufwärts, nahm das Dach mit, stürzte es in die Tiefe, schwebte
über Scharzfeld, und schrie laut: daß der Pfaffe mehr als der
Kaiser an der That schuld sey! und verschwand.
Seit der Zeit hat kein Dach wieder auf dem Thurme fest sitzen wollen;
denn wenn auch eins darauf gesetzt war, so ist der Burggeist immer wieder
gekommen und hat es heruntergerissen. Der Pfaffe aber ging sein Lebelang
verstört umher, und kam nie wieder zu einem heitern Gesicht.
Das alles ist geschehen, als man schrieb Eintausend, einhundert und zehn
nach Christi Geburt.
* * *
Honemann's Alterthümer des Harzes. Behrens,
Hercynia curiosa, S. 196. Meine Ritterburgen Deutschlands, 1r Bd. S. 51.
Büsching's Volkssagen, 2e Abth. S. 341. - Daß Kaiser Heinrich
IV. ein höchst wollüstiger Mensch war, ist bekannt. Ganz vorzüglich
beurkundet es aber ein Zug aus der Geschichte seiner Kriege zur Unterdrückung
der Thüringer. Als er sich nämlich im Laufe derselben zu Goslar
in einer sehr bedrängten Lage befand, und deshalb den Fürsten,
die sich gegen ihn verbunden hatten, Neigung zur Versöhnung zeigte,
da machten diese unter andern auch die Bedingung, daß er seine vielen
Mätressen abschaffen solle. Das Abenteuer auf der Burg Scharzfeld
ist daher nicht unwahrscheinlich, und vielleicht mischte das Volk nur
deshalb eine wunderbare Theilnahme des Burggeistes hinzu, um diese Begebenheit,
als einen sprechenden Charakterzug ihres Kaisers, der Nachwelt desto sicherer
aufzubewahren.
Quelle: Friedrich Gottschalck, Die Sagen und Volksmährchen der Deutschen, Halle 1814